„Lauf Mensch, schneller, lauf, du Affe“

Erster deutsch-deutscher Galopprenntag in Hoppegarten: 38.000 ZuschauerInnen zocken bei Sonnenschein, Werberummel und Favoritensiegen Westsponsoren gebärden sich auf Schampuslogen als neue Herren der schönen Rennbahn, während Ostler auf niederen Rängen gemütlich feiern  ■  Von Olga O'Groschen

Wenn die Pferde auf die Zielgerade einschwenken, den berüchtigten Hoppegartener Anberg hinaufhetzen, sich die Lungen aus dem Leib rennen, langgestreckte, schweißnasse, sehnige Körper, die Hufe auf der Grasnarbe donnern, dann gerät der Pferdezocker außer sich. „Lauf Mensch, lauf, du Affe“, brüllt er seinem Tip entgegen, seinem Favoriten nach, „mach hinne, Mikdo“.

In zwei, drei Sekunden ist der ganze wundervolle Troß vorbeigerauscht, die Pferde vorn Kopf an Kopf kämpfend, mit aufgrissenen Augen, von den Jockeys gepeitscht, die mittleren um eine Länge nachhechelnd, keine taktischen Spiele mehr, die Zügel sind frei, die ZuschauerInnen aufgesprungen, brüllen wie aus einer Kehle, der Rennkommentator schreit die Positionen auf den letzten Metern, und dann verebbt das Gebrüll.

Zaghafter Beifall für den Sieger. Unser Zocker hat fünfzig Mark verloren, saugt hastig an seiner Zigarette, wischt sich das Haar aus der verschwitzten Stirn, beugt sich wieder über die Rennzeitung. Der Tag hat ja erst begonnen. Und kurz vor dem zweiten Rennen, das er eigentlich auslassen wollte „aus altem Aberglauben“, zieht es ihn doch an den Wettschalter. Mit gespitztem Mund kreuzt er den Einlauf an, seelenruhig, gibt den Zettel ab, Sekunden bevor die Pferde aus ihren Startboxen schießen, und schlendert dann gemächlich zum Ziel, um seine Tips in der perfekten Reihenfolge eintrudeln zu sehen.

Es ist ein herrlicher Tag auf der schönsten deutschen Galopprennbahn, knapp vierzigtausend BesucherInnen wuseln auf den Tribünen und Stehplätzen, vor den Wettschaltern und Bierständen. Acht Rennen sind angesetzt, davon vier mit deutsch-deutscher Beteiligung. Doch ist schon vorher abzusehen, daß die volkseigenen Pferde den bundesdeutschen hinterherlaufen werden, weniger eine Frage des Trainings als des Futters und der „medizinischen Betreuung“.

Ebenfalls klar vom ersten Moment an, daß die westdeutschen Sponsoren nicht als Gäste gekommen sind, sondern als die neuen Herren. Das Werbespektakel, das von 'Bild‘, Mercedes, Idee-Kaffee, Coca-Cola, Kindl entfesselt wird, grenzt an Unverschämtheit. Alle zwei Minuten wird den Sponsoren über Lautsprecher wärmstens gedankt, die DDR-BürgerInnen drängen sich um die ausgeteilten Aufkleber und Werbetütchen und haben ihre liebe Mühe mit dem neuen Elektrototalisator.

Ein nervlich angegriffener Wetter will seinen alten Osttoto wiederhaben, beginnt vor dem Wettschalter herumzubrüllen und zerfetzt schließlich in unseliger Wut seine Scheine.

Insgesamt jedoch ist die Stimmung sehr friedlich. Die Sonne steht hoch über Hoppegarten, man liegt familiär im Gras mit Bierpullen und Bienenstich und holt sich den ersten kleinen Sonnenbrand. Zwischen den Rennen trötet das Orchester der Forstwirtschaft aus Zossen seine Volksweisen daher.

Da sich die westdeutschen Gäste in ihre Schampuslogen zurückgezogen haben, feiern die Ostler ihr gemütliches Volksfest auf den niederen Rängen. Im Restaurationsbetrieb unter der Haupttribüne etwa zeichnen sich feine und heitere Genrebilder aus dem DDR-Leben. Lebemänner in Nadelstreifenanzügen mit fiesen orangen Oberhemd führen das große Wort beim Biergelage. Proppere Damen vom Prenzlauer Berg, die hier uff Männer jagen, schieben durch die Menge und lächeln kirschrot. Abgewrackte Existenzen, das Hemd aus der Hose gerutscht, die Rennzeitung in die hintere Hosentasche gewühlt, Pulle Muskateller in der Linken, verwickeln sich in hitzige Diskussionen über die Pferde.

Büschelweise wird die Ostkohle zum Schalter getragen, während jene für Westmark weiterhin auf Kundschaft warten. In der Sonne lagern alternative Ostpärchen in Batikhemden, die umfangreichen Haarmatten ineinandergestippt. Noch ein Schluck aus der Flasche, mein Schatz. Noch ein Schnittchen Kuchen. Und schnaubend, keuchend, donnernd kommen die Gäule die Gerade herunter, ins Gebrüll der Tribüne hinein, strecken sich dem Ziel entgegen, Sieg und Platz im verebbenden Aufschrei der Massen.

Die Sponsorenrennen werden unter den westdeutschen Pferden ausgemacht, die Ostklepper laufen deprimierend weit hintendrein. Und der Jockey Paul Schiergen gewinnt alle seine vier Rennen, darunter das mit 30.000 Mark dotierte Hauptrennen auf Procorum. Eine sichere Bank für die Wetter, die sich wegen der niedrigen Siegquoten jedoch meist mit dem Platztip verheddern.

Unser Mann hat inzwischen 200 Ostmark gutgemacht, die er im siebten Rennen schlicht auf Letras setzt, mit der innigen Ruhe des sicheren Siegers. Und wieder stürmen die Pferde aus ihren Boxen, hetzten die Gerade hinunter, die Stimme des Kommentators überschlägt sich, als sie in den Darwitzer Bogen schwenken, noch im Pulk auf die Zielgerade kommen. Wieder springen die Leute von ihrem Picknick auf, unser Mann sieht mit Kennerblick sein Pferdchen in dritter Position, noch frisch und kraftvoll, noch von Schiergen gehalten. Und auf den letzten zweihundert Metern läßt er die Zügel schießen, Letras streckt sich, geht nach außen und nach vorn und dem Ziel entgegen.

Und unser Wettprofi schlendert befriedigt dem Schalter entgegen und sackt seinen halbe Tausender ein. Ostkohle zwar, aber immerhin.

Bei den Verlierern kommt der Kater schon bei Sonnenuntergang. Trübsinnig sitzen sie in ihren Knautschlackanoraks und Präsent 20-Hosen, blinkern bitter durch ihre Hornbrillen auf die Haufen von weggeworfenen Wettscheinen und Bierflaschen. Die Moderaten quäken unbeirrt weiter ihre Werbespots über die Lautsprecher, während die alteingesessenen Ostwetter der Hoppegartener Idylle nachtrauern. „Man muß sich jetzt eben auf kapitalistischer Verhältnisse einstellen“, murmelt einer düster. Dann wird man auch das Bier, mit dem man seinen Kummer ersäuft, teuer bezahlen müssen.