: „Gewalt ist nicht nur der geschleuderte Stein“
Präambel des Bundestagswahlprogramms 1990 der Grünen ■ D O K U M E N T A T I O N
Auf der Bundesversammlung der Grünen in Hagen wurden am Wochenende drei Entwürfe für eine Präambel zum Bundestagswahlprogramm eingereicht. In einer ersten Abstimmung lehnten die Delegierten den Text der Parteilinken ab, in einer zweiten wurde der Vorschlag der Realos zurückgewiesen. Angenommen wurde schließlich ein Entwurf, den Grüne aus Braunschweig ausgearbeitet hatten. Wir veröffentlichen ihn stark gekürzt. Die Grünen
und der Zusammenbruch
des „realen Sozialismus“
(...) Derzeit wird aus dem Scheitern, dem tiefen Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ in Mittel- und Osteuropa eine neue Legitimation für unsere kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen als der besten aller möglichen Welten gezogen und jedwede Kritik daran, jedwede Umbauforderung heruntergebügelt.
Wir Grünen haben das Gesellschaftsmodell des „realen Sozialismus“ stets kritisiert, den fatalen Umschlag des ursprünglich humanistisch-emanzipatorischen Ideals des Sozialismus in die nackte Despotie eines absolutistischen „Vormundschaftsstaates“ aufgedeckt und bekämpft und die oppositionellen Strömungen, wie Solidarnosc, Charta 77 und die unabhängige Friedens-, Menschenrechts- und Ökobewegung der DDR unterstützt.
Gerade deshalb hören wir jetzt nicht auf, auch die hiesigen Verhältnisse weiter zu kritisieren und gesellschaftliche und politische Alternativen zu entwickeln und vorzutragen Alternativen für drüben und hüben. Demgegenüber hat die Bundesregierung nur eines anzubieten: keine gesellschaftliche Utopie, keine humane Solidarität und Hilfe, kein ernsthaftes Bemühen um die Lösung der anstehenden Probleme, sondern einzig die obszöne Überzeugungskraft der D-Mark, mit der sie schamlos und in der Pose des Zuhälters die DDR und die sonstigen Übergangsgesellschaften des einstigen „Ostblocks“ zur Prostitution, d.h. zur Aufgabe, zum Verkauf ihrer selbst treibt (...). Geht es nach der Kohl-Regierung, so ernten die Unternehmen die Früchte dieser nationalistischen Anschlußpolitik, während deren Zeche wieder einmal die breiten, nichtbesitzenden Bevölkerungsschichten zu zahlen haben. Das Erwachen aus dem Taumel der deutsch-deutschen Gefühle wird dann bitter werden (...). Was wir wollen
„Eine Minderheit zu sein stempelte einen nicht zu einem Verrückten“ (Georg Orwell, „1984“)
Wir Grüne haben nicht das Zauberpulver, das um die Ecke schießt. Wir sind nicht die besseren Menschen und haben nicht auf alle Fragen eine fertige Antwort parat. Doch wir haben Vorschläge und Gegenkonzepte anzubieten, die wir mit möglichst vielen Menschen diskutieren und gemeinsam umsetzen wollen.
Es ist keineswegs damit getan, daß „grünes Gedankengut“, verkürzt auf ein technokratisches Management der ökologischen Krise, Eingang gefunden hat in die Rhetorik der etablierten Parteien. Wir brauchen eine umfassende Umgestaltung der Gesellschaft, ein neues Modell von Vergesellschaftung, in dem die Menschen im Einklang mit der Natur leben und wirtschaften, in dem sich freie Subjektivität mit solidarischem Gemeinsinn verbindet, in dem materielle Sicherheit und gleiche demokratische Rechte für jedermann und jedefrau zur Wirklichkeit werden. (...)
1. Die ökologische Selbstzerstörung muß aufgehalten werden. Eine neue Form des Produzierens muß gefunden werden, die die Vorzüge des Marktes in der Versorgung mit einer strukturellen Rahmenplanung verbindet. Eine reine Marktwirtschaft vermag es nicht, über die Vermittlung der egoistischen Einzelinteressen hinaus gesellschaftliche Bedürfnisse und Zwecke, wie Umweltschutz, zu verwirklichen. Daß ein Verzicht auf unbeschränktes Wachstum nicht zu einer klammen Verzicht-Ideologie werden muß, kann durch eine gerechte gesamtgesellschaftliche „Verteilung“ des Verzichts (von unten nach oben) gewährleistet werden.
2. Die wahnsinnigen militärischen Hochrüstungen der Paktsysteme, ihre zum Krieg führende Logik der waffenstarrenden Verteidigung, muß gebrochen werden. Mit dem politischen Zerfall des Warschauer Paktes und der Abrüstungspolitik Gorbatschows stellt sich uns die dringende Aufgabe, auch die Nato zu einseitigen Abrüstungsschritten zu zwingen. Ziel muß eine Auflösung der Militärbündnisse und die völlige Entmilitarisierung Europas sein.
3. Die ungerechte Weltwirtschaftsordnung treibt die Mehrheit der Menschheit in Not und Elend und die Nationalökonomien der zweiten und dritten Welt in eine dramatische Abhängigkeit von Weltbank und Weltmarkt. Ihrem Diktat wird unter der Last einer gigantischen Verschuldung jeder verantwortliche Umgang mit Mensch und Natur geopfert. Ohne eine Revolutionierung der gesamten weltwirtschaftlichen Beziehungen, ohne demokratische Land- und Wirtschaftsreform in den Ländern der Dritten Welt ist ein Ausweg aus der ökologischen und ökonomischen Misere nicht denkbar.
4. Feminismus ist mehr als sektorale „Frauenpolitik“, die sich für die volle soziale Gleichberechtigung der Frauen einsetzt. Er versteht sich auch als durchgängige Kritik unseres patriarchalisch geprägten gesellschaftlichen Selbstverständnisses und der herrschenden Kultur. Mit der Abspaltung der angeblich weiblichen Werte und Eigenschaften aus dem öffentlichen Leben und der Verdrängung der Frauen in die Privatsphäre ist nicht nur die gesellschaftliche Dominanz des Mannes, sondern die Herrschaft der Menschen über den Menschen und die Natur mit vorangetrieben und gefestigt worden. Die Feminisierung der Gesellschaft ist daher wesentlicher Bestandteil der Demokratisierung und Pazifizierung des menschlichen Zusammenlebens.
5. Dem weltweiten Kampf um soziale Gerechtigkeit, Demokratie, individuelle Freiheiten und Menschenrechte schließen wir die Forderung nach umfassender Demokratisierung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche bei uns an. Dazu gehören eine Demokratisierung der Wirtschaft, eine Rückeroberung der Politik, der „res publica“, also der allgemeinen Belange, durch die Allgemeinheit, eine Verteidigung und Ausweitung staatsfreier Spielräume, neuer kultureller Lebensformen und emanzipativer zwischenmenschlicher Beziehungen, von der Öko-Landkommune bis zur Hamburger Hafenstraße. Bei gesellschaftlichen Konflikten ergreifen wir die Partei der Schwachen. Gerade weil wir prinzipiell gegen Gewalt sind, lassen wir uns die staatliche Gewaltdefinition nicht aufzwingen: Denn Gewalt ist nicht nur der geschleuderte Stein, Gewalt ist auch Tiefflug, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Armut. Staatlicher und sozialer Gewalt setzen wir den moralischen Imperativ entgegen: daß nur eine friedliche, gewaltfreie Gesellschaft eine menschenwürdige Gesellschaft ist. Deshalb verfolgen wir eine Strategie der Pazifizierung gesellschaftlicher Konflikte - gegen Sündenbockmentalität und Hetze gegen unbequeme Andersdenkende. Damit verhalten wir uns nicht neutral oder im Sinne einer „Ruhigstellung“ des Konfliktpotentials. Im Gegenteil: Unsere Aufgabe sehen wir darin, kritische Gesellschaftstheorie aufzugreifen und umzusetzen sowie gesellschaftlichen Mobilisierungen zu einer größeren Wirksamkeit zu verhelfen. Ein solidarisches Gemeinwesen ist des weiteren unvereinbar mit der Ausgrenzung von Minderheiten. Alte, Kranke, Behinderte und andere sogenannte „Randgruppen“ müssen einen gleichberechtigten Platz im gesellschaftlichen Leben erhalten.
Zu einem gemeinsamen Haus Europa mit gleichberechtigten Bewohnern gehört die Absage an jede Macht- und Hegemonialpolitik. Das erfordert auch den Bruch mit der bestehenden EG-Abschottungspolitik, den Bruch mit der Diskriminierung von „Ausländern“ und „Fremden“ durch die Konstituierung eines europäischen Bürgerrechts, das politsche Grundrechte nicht mehr länger an Volks- oder Staatsangehörigkeit bindet (...).
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