:
■ WEST - PRESSESTIMMEN
Handelsblatt
Das Düsseldorfer Wirtschaftsmagazin kommentiert den Bundesbank-Beschluß:
In einer Marktwirtschaft mit Tarifautonomie, die in der DDR rasch verwirklicht werden muß, regeln Tarifverträge Mindestentgelte und Mindestbedingungen. In der DDR müssen die Tarifverträge aber wirklich einen Mindestlohncharakter haben (...) Mit dem zu erwartenden „Produktivitätswunder“ wird ein „Lohnwunder“ einhergehen. Wenn die Menschen das Gefühl haben, daß es aufwärts geht, werden sie auch bei zunächst beträchtlichen Lohnunterschieden ihrer Heimat treu bleiben. Ein Lohngefälle zur Bundesrepublik ist noch auf einige Jahre notwendig, um Investitionen attraktiv zu machen und damit den Aufholprozeß erst zu ermöglichen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)
Die konservative FAZ stellt Kohl ein gutes Zeugnis aus:
... So könnten die Vorstellungen Kohls und Genschers über einen ersten gemeinsamen Wahltermin im zweiten Halbjahr 1991 bald überholt sein, von Vogels Perspektive „irgendwann zwischen 1990 und 1993“ zu schweigen. (...) Kohl, vor einem Jahr noch als Versager verschrien und politisch für vogelfrei erklärt, kann es sich jetzt erlauben, auf zwei Wahlsiege zu hoffen: die aktuellen Umfragen verheißen in Westdeutschland für die nächsteBundestagswahl Gutes, zugleich aber ist auf den Winter hin der Schweiß- und Tränen -Schock in der DDR zu erwarten.
Westdeutsche Zeitung
Die WAZ fürchtet neue „Aussiedler“:
Den Menschen in der DDR müssen die jüngsten Vorschläge zur deutsch-deutschen Währungsunion wie ein schlechter Aprilscherz vorkommen. (...) Wenn die Frankfurter Währungshüter und mit ihr maßgebliche Vertreter der Bundesregierung plötzlich eine Umtauschrelation von 2:1 für richtig halten, orientieren sie sich an der ökonomischen Wirklichkeit. (...) Die Folgen dieser seit langem bekannten Wahrheit erst jetzt auszusprechen, ist politische Bauernfängerei, die vermutlich fatale Konsequenzen hat. Eine neue Übersiedlerwelle, die alles bislang Bekannte in den Schatten stellt, ist absehbar.
Nordsee-Zeitung
Das Bremerhavener Blatt spricht von Wahlbetrug:
Den DDR-Bürgern wurde am Wochenende eine Lektion besonderer Art erteilt, die da lautet: Eine Partei gewinnt eine Wahl durch Versprechungen, an die sie sich nach der Wahl nicht unbedingt halten muß. Bundeskanzler Helmut Kohl, der eigentliche Sieger der Volkskammer-Abstimmung von vor zwei Wochen, hat dies eindrucksvoll vorgeführt. Hat er vor dem 13. März zumindest den Eindruck erweckt, daß Ost- in West -Mark im Verhältnis 1:1 umgetauscht werden wird, so ist jetzt nur noch von 2:1 die Rede - die DDR-Bürger können ihre Erwartungen an das Wunder einer Währungsunion mithin um 50 Prozent abwerten. Dem Vorwurf, Wahlbetrug begangen zu haben, wird er sich bis zur Bundestagswahl ausgesetzt sehen.
Neue Presse (Hannover)
Die DDR-Bürger haben Erfahrungen in Sachen Demokratie gesammelt für die Wahlen am 6. Mai:
Die DDR-Bürger fühlen sich verschaukelt. Zu Recht. Hatten sie doch den verlockenden Versprechungen des Bundeskanzlers vertraut und der konservativen Allianz zu einem unerwartet deutlichen Wahlsieg verholfen. (...) Nun stellt Kohl sich hin und erklärt dickfällig, er habe nie Zusagen über den Wechselkurs gemacht. So einfach ist das. Die Menschen zwischen Elbe und Oder sollten sich diese Lektion merken: Wahlversprechen können zwar nicht eingefordert werden, aber die Wähler haben die Möglichkeit, dafür zu sorgen, daß Lügen kurze Beine behalten. Am 6. Mai sind Kommunalwahlen.
Westfalen-Blatt Bielefeld
West-Einstieg müßte schneller kommen:
... Hier rächt es sich, daß die Bundesregierung auf die dümmste und zugleich bösartigste aller Parolen der Kommunisten drüben und ihrer Schlepperträger hier hereingefallen ist: das Stichwort „Ausverkauf“. Da wurde gezetert, daß „unser Volkseigentum“ von den Kapitalisten weggeschnappt würde, „die Deutsche Bank steht schon bereit“. (..) Aber natürlich hätte das ganze „Volkseigentum“ (in Wahrheit: Parteieigentum der SED-Bonzen) sofort, am besten schon vom letzten Dezember an, an westliche Firmen verkauft werden müssen. Dann wären den Fabriken massenhaft Kapital, Management, Knowhow und westliche Marktbeziehungen zugute gekommen, dann wäre die Produktion sofort auf westlichen Standard umgestellt worden - und die Löhne auch.
Neue Westfälische
Die findet, die DDR-Bürger müßten sich ihren Reichtum selbst erarbeiten:
Nicht vergessen werden sollte, daß die Menschen in der Bundesrepublik rund vier Jahrzehnte gebraucht haben, um den jetzigen Lebensstandard zu erreichen. Er wurde erarbeitet. Im Vergleich dazu ist die DDR in diesem Zeitraum weit zurückgefallen. Jede künftige Wohlstandssteigerung, die über die Kraft der DDR hinausgeht, ganz gleich in welchem Zeitraum, muß von der Bundesrepublik, von den Bundesbürgern bezahlt werden. Das ist ebenfalls ein Stück Wahrheit jenseits des Wahlkampfgeschwätzes. (...) Hilfe zur Selbsthilfe, mehr kann und darf es nicht sein.
Der Standard
Die liberale Wiener Zeitung über die deutsch-deutschen Interessengegensätze:
Der jahrzehntelange Wunsch der Deutschen in Ost und West, wieder ein „einig Vaterland“ zu haben, dürfte in diesem Jahr de facto noch in Erfüllung gehen. Die geplante Beschränkung des paritätischen Umtausches der Ostmark in Westmark nur für Sparguthaben von nicht mehr als 2.000 DDR-Mark - und nicht für Löhne und Renten - zeigt aber klar, daß es auch im künftig grenzenlosen Vaterland eine Grenze gibt. Nämlich jene der Belastbarkeit der Westdeutschen für die „Brüder und Schwestern im Osten“.
Die Bonner Regierung hatte sich verbürgt, daß es für die Sanierung der DDR die Bundesbürger nicht über Erhöhungen der Steuer zur Ader lassen wolle. Irgenwoher müssen die Zigmilliarden aber kommen. Die Wirtschaftskraft der Westdeutschen reicht dafür sicher aus, aber das Geld liegt nicht in den Staatskassen. Es muß geborgt werden. Und mit der näheren Nachfrage nach Krediten wird es knapper. Daher müssen die Zinsen steigen. Und mit steigenden Zinsen dsroht auch ein Inflationsschub. Des Regierungschefs Helmut Kohl und des Bundesbankpräsidenten Karl Otto Pöhls liebstes Kind, die Geldstabilität, würde so bedroht.
The Independent
Der Londoner „Independent“ begrüßt den Wechselkurs 1:2:
Es ist eine Entscheidung der Bundesbank für eine feste Währung in Westdeutschland, in Europa und vielleicht weltweit... Wahrscheinlich hatte Kohl kaum eine Alternative zur Annahme des Bundesbank-Vorschlags, der die ausgesprochene Billigung seines Finanz- und Wirtschaftsministers hatte. Es war der Fehler des Kanzlers, die Erwartungen der Ostdeutschen unrealistisch hoch zuschrauben. In den nächsten Monaten könnte er einen politischen Preis für diese Doppelzüngigkeit zahlen müssen. Er muß jetzt die ostdeutschen Hoffnungen wieder senken. Die Probleme der ostdeutschen Wirtschaft sind zu groß, um einen Wechselkurs von 1:1 auszuhalten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen