: Vom real existierenden Sozialismus zum real funktionierenden Markt
■ Diese Woche wird in der UdSSR der Übergang zur Marktwirtschaft beschlossen / Entmonopolisierung und freier Wettbewerb ab 1991 / Gewerkschaften rechnen mit 50 Millionen Arbeitslosen / Exportverbote verhängt / Ölarbeiter wollen streiken
Moskau/Berlin (taz/adn) - In dieser Woche wird der sowjetische Vize-Premierminister Leonid Abalkin der sowjetischen Regierung ein Notprogramm zur Rettung der Wirtschaft vorlegen. Dies kündigte Präsident Gorbatschow auf der ersten Sitzung des neuen Präsidialrates letzte Woche an. Das Maßnahmenpaket soll bis zum 10. April dem Ministerrat präsentiert werden.
In einem Interview erläuterte Abalkin, der als Radikalreformer im Sommer 1989 von Gorbatschow in die Regierung geholt wurde, Einzelheiten des Programms. Bis spätestens Anfang 1991 plant die Regierung nach seinen Worten eine „radikale Veränderung der Preisbildung, die Einführung einer einheitlichen Gewinnbesteuerung, eine neue Kreditpolitik sowie Maßnahmen gegen die Inflation und zum sozialen Schutz der Armen“. In den Jahren 1991 bis 1996 sollen dann ein System von Waren- und Wertpapierbörsen, ein „großes Netz“ von Pachtbetrieben, Aktiengesellschaften, Genossenschaften und Joint Ventures sowie ein „etappenweiser und konsequenter Übergang zur Konvertibilität des Rubels“ und eine „Entstaatlichung des Eigentums in genügend großem Maßstab“ verwirklicht werden. Solche „Strukturen, die auf vielfältigen Eigentumsformen und Wettbewerb aufbauen, sind Vorraussetzung für einen real funktionierenden Markt“, sagte Abalkin. Er vermied die Bezeichnung „Privatbetriebe“ und sprach lediglich von „individueller Arbeitswirtschaft“.
Desolate Wirtschaftszahlen
Ein ähnliches Programm wurde schon im Oktober von Abalkin vorgeschlagen. Im Dezember wurde jedoch ein von Ministerpräsident Ryshkow vorgelegter Stufenplan beschlossen, der die Einführung der Marktwirtschaft bis 1993 vorsah und den Abbau der Subventionen für Grundbedürfnisse in die Zukunft verschob. Daß jetzt die radikaleren Ideen Abalkins wieder offizielle Politik sind, ist laut Abalkin politischen Kräften zuzuschreiben, „die die Lage destabilisieren und Mißtrauen gegen die Regierung schüren wollen“. Der Kurswechsel ist somit auch eine Kampfansage gegen die konservativen Kräfte, die eine Rückkehr zur strikten Wirtschaftslenkung fordern. Paradoxerweise hat der relative Mißerfolg der radikalen Reformer bei den Kommunalwahlen in Rußland diese Kursänderung begünstigt. Gorbatschow muß sich jetzt nicht mehr nachsagen lassen, er renne aus Angst vor Wahlverlusten den Radikalen hinterher.
Das Programm birgt aber auch Risiken. Die Gewerkschaftszeitung 'Trud‘ rechnet in den nächsten zehn Jahren mit 50 Millionen Arbeitslosen. Wegen der katastrophalen Wirtschaftsentwicklung wird dies vorerst in Kauf genommen. In Januar und Februar 1990 stiegen die Arbeitseinkommen gegenüber den Vergleichsmonaten von 1989 um 15,5 Prozent, die Konsumgüterproduktion aber nur um 6 Prozent. Das produzierte Nationaleinkommen fiel sogar um ein Prozent. Sechs Prozent weniger Kohle, vier Prozent weniger Öl, elf Prozent weniger Autobusse, vierzehn Prozent weniger Dieselmotoren, 21 Prozent weniger Elektrolokomotiven (aber mehr Notizbücher und Seife!) - diese Zahlen schlugen in Moskau Alarm. Außerdem gingen durch Streiks in den beiden Monaten 9,1 Millionen Arbeitstage verloren - im gesamten Jahr 1989 waren es nur 7,3 Millionen.
Ausfuhrverbote verhängt
Als Sofortmaßnahme wurden am Wochenende rigorose Exportbeschränkungen verkündet, um der „desolaten Lage“ auf dem Verbrauchermarkt abzuhelfen. Der stellvertretende Leiter der staatlichen Zollbehörde sagte, bei den „äußert harten Verboten“ handele es sich um zeitweilige Maßnahmen, die nur für das laufende Jahr gelten sollen, sagte er. Ausfuhrverbot gilt jetzt unter anderem für Fleisch und Fleischerzeugnisse, Tier- und Pflanzenfette, Kaviar, Eier, Fischkonserven, Graupen, Kaffee, Kakao, Gewürze, Honig, Zucker und Konditoreiwaren. Dazu kommen Autobatterien und -reifen, Elektrokabel, Werkzeuge und Fahrzeugersatzteile, Baumaterial, Felle und Pelze, Stoffe, Teppiche, Tisch-und Bettwäsche, Kühlschränke, Unterhaltungselektronik, elektrische Haushaltgeräte, Fahrräder, Fotoapparate und Nähmaschinen. Der Regierungsbeschluß gilt für alle sowjetischen Bürger, die aus privaten Gründen ins Ausland reisen, und für Ausländer. Ausgenommen sind lediglich Lebensmittel und Industriewaren, die für ausländische Währungen in den entsprechenden Spezialgeschäften gekauft worden sind.
Die Streikwelle in sowjetischen Betrieben geht unterdessen weiter. Ab Sonntag wollen die Belegschaften in den westsibirischen Ölfeldern ihre Arbeit niederlegen, um bessere Lebensbedingungen durchzusetzen. Damit wären 65 Prozent der sowjetischen Ölförderung lahmgelegt.
D.J.
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