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Europhorie bestimmt Verhältnis zur Dritten Welt

Die internationale „development community“ tagte in der Deutschen Stiftung für Entwicklungspolitik in Berlin / Guter Rat an die Länder der Dritten Welt: Baut eure Wirtschaft nach unserem Vorbild um und nutzt Nischen, die sich durch die Ost-West-Annäherung bieten  ■  Von Tatjana Chahoud

Ein informeller Gedankenaustausch stand auf dem Programm vom 20. bis 24. März. In der abgeschiedenen Idylle der Villa Borsig in Berlin-Tegel waren rund fünfzig hochrangige Experten aus der bundesdeutschen und internationalen development community zusammengekommen, um zum Thema „Europa in den 90er Jahren und die Dritte Welt“ zu ventilieren. Die Schirmherrschaft dieses round tables lag bei der Deutschen Stiftung für internationale Entwicklung (DSE) sowie der Gesellschaft für internationale Entwicklung (SID).

Das EG-Binnenmarktprogramm 92 - so eine der zentralen Botschaften der Konferenz - ist in erster Linie eine Angelegenheit der EG für die EG. Die Dritte-Welt-Länder sollten diese Entwicklungen, die durch EFTA und die osteuropäische Integration weitere Impulse erhalten, als Chance und Herausforderung für die Entfaltung ihrer eigenen Entwicklungspotentiale nutzen. Für den EG-Raum sei mit beträchtlichen Wachstumsschüben in Höhe von etwa fünf Prozent zu rechnen und der einheitliche Binnenmarkt mit seinen zirka 320 Millionen Konsumenten böte allen übrigen Handelspartnern bisher nicht gegebene Effekte der economies of scale (größere Produktivität durch größere Einheiten). Als zukunftsträchtig für die Drittweltstaaten könnten sich demnach auch die Reformprozesse in Osteuropa erweisen. Wirtschaftskraft und Einkommen werden sich erhöhen und dem Außenhandel dieser Staaten neue Impulse geben. Nachfragesteigerungen nach tropischen Nahrungs- und Genußmitteln würden gerade auf jenen Märkten zunehmen, für die sich in den westlichen Industrieländern nur schwer zusätzlicher Absatz finden ließe. Um die vorhandenen Nischen auf dem europäischen Markt lukrativ nutzen zu können, ist es - so die Argumentationslinie - eine unabdingbare Voraussetzung, daß Markteffizienz und günstiges Investitionsklima in der Peripherie gesichert werden.

Einzelne Statements von Vertretern der Drittweltstaaten verwiesen nicht nur auf die enttäuschenden Resultate der Lome-Konventionen (statt erwarteter Zunahme des EG-AKP -Handels fielen die EG-Importe in den letzten 25 Jahren um 50 Prozent zurück) sowie den subventionierten Verdrängungswettbewerb durch die EG-Agrarmarktordnung, sondern vor allem auch auf die Abschottung sämtlicher OECD -Länder durch das penetrante Festhalten an einschlägigen Abkommen. Durch den Wegfall nationaler Schutzbestimmungen so die Befürchtungen - könnte sich der protektionistische Druck jetzt auf EG-Ebene sogar weiter steigern und vor allem jene Produktlinien treffen, für die die sich industrialisierenden Dritte-Welt-Länder umfangreiche Wettbewerbsvorteile aufweisen.

Dieser Druck werde auch keineswegs durch die Integrationsprozesse Osteuropas kompensiert - im Gegenteil: Die hier jüngst seitens der EG abgeschlossenen zahlreichen bilateralen Handelsabkommen lassen eher weitere Verdrängungsprozesse erwarten. Die neuerliche Einbeziehung Polens und Ungarns in das üblicherweise nur für Dritte-Welt -Länder vorgesehene Allgemeine Präferenzabkommen (GSP) zum Zwecke eines bevorzugten Marktzugangs wurde mit Besorgnis registriert. Es ist auch keineswegs unwahrscheinlich, so Dr. Lutz Hoffmann, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), daß Osteuropa die Exporterfolge einzelner ostasiatischer Länder in den Schatten stellen und sich perspektivisch als der lukrativere Investitionsstandort anbieten könnte.

Klare Signale für eine Umlenkung (diversion) der Wirtschaftsaktivitäten von der Peripherie in Richtung Osteuropa zeichnen sich ebenfalls für die Bereiche Privatinvestitionen sowie für die öffentlichen Finanztransfers (ODA) ab. UN-Vertreter wie auch Mitarbeiter aus regierungsnahen Planungsstäben verweisen mit Blick auf den Trend bei ausländischen Direktinvestitionen auf die Sogwirkung von EG 92 sowie den Rückzugstrend aus den hochverschuldeten Ländern Lateinamerikas und Afrikas. Eigene „Perestroika-funds“ werden inzwischen bei internationalen Großunternehmen und Großbanken eingerichtet. Laut Schätzungen des US-Nachrichtenmagazins 'Newsweek‘ halten westliche Firmen bereits über eine Milliarde US -Dollar für Investitionen in Osteuropa bereit. Fast die Hälfte dieser Summe entfällt hier auf die Deutsche Bank.

Von bundesdeutschen Konferenzteilnehmern wurde zwar wiederholt, daß eine Umschichtung von ODA-Ressourcen abgelehnt werde. Der allgemeine Trend zeigt jedoch in eine andere Richtung. Auf einem jüngsten OECD-Treffen in Brüssel wurde nicht nur eine umfassende Kooperation und Koordination bei den Hilfszusagen gegenüber Osteuropa entsprechend den Reformfortschritten (Marktwirtschaft, Vielparteiensystem, freie Wahlen) zugesagt, tatsächlich hat die EG inzwischen angekündigt, Exportgarantieprogramme für 66 Dritte-Welt -Länder zu kürzen und die freiwerdenden Finanzressourcen nach Osteuropa umzulenken. Des weiteren wurden alle zwölf Mitgliedsstaat zur Unterstützung der Weltbankdarlehen beziehungsweise zu Strukturanpassungsmaßnahmen in Ungarn aufgerufen.

Der Reformprozeß in Osteuropa führt aber nicht nur zur Umlenkung finanzieller Ressourcen, sondern läßt umgekehrt auch alte Feindbilder verblassen. De facto sollte die Rückkehr wichtiger Regionen der Weltwirtschaft in die mainstream-Ökonomie“ den jahrzehntelangen Rüstungswahn der Supermächte wie auch das blühende Geschäft mit Rüstungsexporten in die Dritte Welt die raison d'etre entziehen.

Peace dividend

Die Hoffnungen auf eine größere Partizipation der Dritten Welt bei der vieldiskutierten Gewinnausschüttung der sogenannten peace dividend (Friedensdividende) erweisen sich den Experten zufolge allerdings als verschwindend gering. Konferenzredner wußten warum: Kurzfristig verschlinge die Rüstungskonversion enorme Finanzressourcen (die Vernichtung eines einzigen Panzers kostet derzeit etwa 100.000 DM), und mittelfristig - so die US-Position - müsse die Reduzierung des eigenen Haushaltsdefizits absolute Priorität haben. In Nato-Kreisen selbst wird der Handlungsbedarf sogar eher gering eingeschätzt: Die allgemein labile Weltkonstellation sowie die Instabilitäten in der Dritten Welt im besonderen machten die Fortexistenz der Nato keineswegs unwichtiger.

Summa summarum: Aus dem Blickwinkel der meisten Konferenzteilnehmer präsentiert sich das Europa der neunziger Jahre in einem neuen eurozentrischen Gewand. Die Appelle an die „Peripherie“ sind unmißverständlich: Reorganisiert eure ökonomischen und politischen Systeme nach unserem Erfolgsmodell, und so werdet ihr bei uns und unseren neuen Brüdern und Schwestern in Osteuropa die richtigen Marktnischen finden. Mit unserer technischen Hilfe und zusätzlichen Formen von grüner und politischer Konditionalität kann stets gerechnet werden.

Daß diese eurozentrische Kalkulation aufgehen wird, ist keineswegs ausgemacht. L. Emmerij (Präsident von SID) warnte, es müsse damit gerechnet werden, daß die Menschen notwendigerweise in die Wohlstandsinseln strömen, wenn Geld und Wohlstand nicht zu den Menschen fließen. Ein „europäisches Haus“ mit neuen Mauern - auf der Konferenz eher noch Gedankenspiel - kann angesichts der bereits erreichten Migrationswellen schon morgen Wirklichkeit werden. Ach, Europhoria!

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