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Die Volkskammer hat abgedankt

Nicht im Parlament, auf der Straße hat sich gestern die DDR zu Wort gemeldet  ■ K O M M E N T A R

Die Eröffnung der Volkskammer kann nur die bestätigen, die sagen: die Geschichte der DDR wird derzeit nicht von den Politikern der DDR gemacht. Endlose öffentliche Verlesungen der Abgeordneten, Stimmauszählungen, immerhin TOP 5: „Vorschlag für den Vorsitzenden des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik und Beschlußfassung über die Erteilung des Auftrages zur Bildung der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik“.

Morgens um halb acht schon bauten Ostasien-Korrespondenten sich vor der Kulisse der Volkskammer für ihre Fernseh -Kommentare auf, die Welt schaut auf dieses erste frei gewählte Parlament der DDR - und die Abgeordneten signalisieren ihren WählerInnen in stundenlanger live -Übertragung im Fernsehen: Da lohnt es sich nicht, hinzuschauen. Da wird genausowenig gesagt, worum es geht, wie bisher unter der Herrschaft des SED-Apparates. Wenn bei der nächsten Sitzung noch jemand hinschaut, dann gilt das Interesse schon nicht mehr dem Parlament, sondern der Regierung.

Keine Rede, die den Sinn der historischen Stunde zu formulieren versucht. Kein öffentlicher demokratischer Streit über die Lage der Nation, während zu derselben Zeit in den Koalitionsgesprächen hinter verschlossenen Türen die Frage verhandelt wird, wieviel Selbstbewußtsein die DDR sich leisten kann.

Daß in Bonn schon ein Vertrag für die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion ausgearbeitet wird, haben die Abgeordneten an diesem Vormittag höchstens aus der Presse erfahren. Die Volksvertreter, die nicht zuhörten, sondern West-Zeitung lasen, taten also gut daran. Die Volkskammer ist eine Zwischenlösung im Prozeß der Auflösung der DDR. Die Eröffnungssitzung hat den fatalen Eindruck hinterlassen, als füge sie sich in diese Rolle, als reiche es nicht einmal zu einer Randnotiz.

Die sozialen und zum Teil existentiellen Ängste angesichts der aus Bonn kommenden Verunsicherungs-Wellen finden in der Volkskammer kein Sprachrohr. Ihren Protest artikuliert die Bevölkerung unvermittelt auf der Straße - als finde Politik nicht statt. Die Volkskammer hat denen, die sie gewählt haben, nicht den Rücken gestärkt. Sie hat sich in Formalien verloren, anstatt im Parlament ein eigenes demokratisches Staatsbewußtsein zu formulieren. Eine Chance wurde vertan.

Klaus Wolschner

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