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„Wir werden am Brandenburger Tor ausgekippt“

■ Die letzten Eingemauerten sind die Rollstuhlfahrer: Dem Senat ist es zu teuer, ihnen freie Fahrt in Ost- und West-Berlin und ins Umland zu gewähren / Jetzt reicht's den Behinderten: Sie wollen nun die Glienicker Brücke blockieren

Für Rollstuhlfahrer gibt es auch fünf Monate nach der Grenzöffnung keine Möglichkeit, mit dem Telebus oder einer Behindertentaxe nach Ost-Berlin oder ins Umland zu fahren. Dem Senat ist der Ausbau des Verkehrssystems für Behinderte zu teuer. Nun fordert der Spontanzusammenschluß „Mobilität für Behinderte“ den Senat ultimativ auf, sich bis Gründonnerstag für eine sofortige Verbesserung des Telebus und Coupon-Taxensystems auszusprechen. Sollte dies nicht geschehen, wollen Rollstuhlfahrer am Samstag, den 21. April die Glienicker Brücke mit einer Blockade lahmlegen. Die taz sprach dazu mit Bärbel Reichelt, Rollstuhlfahrerin und Koordinatorin der Aktion.

taz: Was fordert der Spontanzusammenschluß?

Bärbel Reichelt: Wir fordern nun, da die Grenzen offen sind, daß sie auch für alle Menschen offen sind und nicht nur für die Leute, die zu Fuß gehen können oder die BVG benutzen können. Unsere Telebusfahrten sollen nach Ost-Berlin und ins Umland gehen - soweit wie BVG und BVB eben auch fahren.

Da hat sich ja wahrscheinlich in fünf Monaten ganz schön was aufgestaut, gegen wen richtet sich nun eigentlich Ihr ganzer Ärger?

Der Senat hat uns ständig vertröstet. Es wurde immer gesagt, ja klar gelten die Coupons in Ost-Berlin, und der Telebus fährt ja auch nach Ost-Berlin. Der Telebus fuhr auch nach Ost-Berlin, aber als Sammeltransport und nur einmal im Monat, und das sollte uns genügen. Dann wurden die Fahrten auf unser Drängen hin erhöht, auf einmal wöchentlich. Aber das ist ja auch nicht das Gelbe vom Ei, denn wir wollen einfach dann fahren, wenn wir Lust haben. Angenommen, einer will morgens und einer abends fahren, das geht gar nicht, wenn der Sammeltransport nur mittags fährt. Man kann nicht sagen, die Grenzen sind offen, wenn einmal in der Woche sechs Rollstuhlfahrer rüberdürfen. Bis an die Grenze fährt der reguläre Telebus auch. Beispielsweise bis ans Brandenburger Tor - aber da werden wir halt dann ausgekippt, bis Unter den Linden kommen wir gar nicht.

Haben Sie das Gefühl, daß der Senat momentan soviel andere Dinge im Kopf hat und dabei die Behinderten vergessen hat?

Er hat sie nicht vergessen, sondern er hat sie ganz bewußt an den Rand gestellt, weil die ja auch noch Geld kosten. Und man ist ja jetzt mit der ganzen Aus- und Übersiedlerproblematik finanziell genug angespannt. Außerdem sind die Behinderten ja immer die, die am wenigsten schreien.

Worüber ärgern Sie sich jetzt am meisten?

Alle anderen können rüber, nur die Rollstuhlfahrer kommen nicht über die Couponmauer. Die BVG hat seit der Maueröffnung en masse Busse aus Westdeutschland hier hergeholt, bloß damit sie den ganzen Strom von Berlinern und Touristen befördern können. Man hat weder Kosten noch Mühen gescheut, die BVG auf den momentan aktuellen Stand hochzukippen. Wie hoch das Defizit für uns ist, spielt da überhaupt keine Rolle. Uns wurde nur gesagt: „Das wird zu teuer, wenn der Telebus euch da rüberfährt.“ Wir sind schon seit Jahren der Meinung, daß der Telebus völlig unökonomisch fährt und viel zu teuer ist, aber an die heilige Kuh Telebus wird nicht rangegangen. Im Senat hat man uns gesagt: Liebe Behinderte, denkt selbst mit, wie wir eure Forderungen erfüllen können und trotzdem nicht den finaziellen Rahmen sprengen. Da lag dann plötzlich der Schwarze Peter bei uns. Wir dürfen also nicht rüber nach Ost-Berlin, weil wir nicht richtig nachdenken. Ja, aber welcher Berliner muß sich denn selbst Gedanken machen über die BVG?

Wie könnte der behindertengerechte Nahverkehr ökonomischer werden?

Man müßte die Taxen subventionieren. Wenn es dann 200 Berlin-Taxen auf den Straßen gäbe, könnte man sich ganz spontan entscheiden. Sogar mit dem großen Elektrorollstuhl wäre es billiger als mit dem Telebus. Wir wären flexibler. Keine Probleme mehr, sich bei schönem Wetter eine Taxe zu nehmen und raus nach Ost-Berlin oder ins Umland zu fahren. Bis heute müssen wir uns drei Tage vorher beim Fahrdienst anmelden und bis der Telebus dann kommt, regnet es wahrscheinlich wieder.

Julia Schmidt

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