: „Zwangsarbeit“ bei Siemens vor Gericht
Eine ehemalige Gefangene des KZs Ravensbrück/Havel und Siemens-Zwangsarbeiterin will nach 48 Jahren endlich ihren Lohn sehen / Musterprozeß vor dem Landgericht München ist fast die letzte Chance, ein unseliges Stück deutscher Geschichte zu beenden ■ Von Thomas Soyer
München(taz) - In einem Musterprozeß soll endlich über die Lohnansprüche der ZwangsarbeiterInnen des Dritten Reichs entschieden werden. Gestern reichte die heute 70jährige Waltraud Blass beim Landgericht München Klage ein.
Neun Monate lang war Waltraud Blass Arbeiterin beim größten privaten Arbeitgeber Deutschlands, der Siemens AG (damals „Siemens & Halske“). Sie umwickelte Kleinanker mit Kupferdraht, sechs Tage die Woche, zwölf Stunden täglich in Produktionsbaracken, die Siemens eigens am 21.August 1942, angrenzend an das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück/Havel, in Betrieb nahm.
Waltraud Blass, damals inhaftiert wegen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus, war Zwangsarbeiterin. Nun versucht sie, stellvertretend für andere Betroffene, von Siemens einen finanziellen Ausgleich für die „Ausbeutung“ zu erstreiten: Damals erhielt sie weder Lohn- noch Rentenzahlungen. „Zwangsarbeit“, der Begriff kann das Leid und die Grausamkeit nicht wiedergeben, der Waltraud Blass und Tausende andere unter dem Nazi-Regime ausgesetzt waren. Als KZ-Häftling mußte sie gegen ein karges „tägliches Brot“ arbeiten, den Monatslohn von 130 Reichsmark überwies Siemens - wie auch andere Firmen in ähnlichen Fällen - direkt an die SS.
„Schwere Männerarbeit“ mußte im KZ geleistet werden, beaufsichtigt von SS-Frauen mit Schäferhunden. Hunger, Wassersuppe, zu dünne Kleidung, Prügelstrafe. Die KZ -Häftlinge wurden systematisch zugrunde gerichtet. „Vernichtung durch Arbeit“ (Goebbels) hieß das Programm. Ins KZ Ravensbrück kamen zwischen 1939 und 1945 etwa 132.000 Frauen und Kinder, etwa 96.000 von ihnen überlebten es nicht. „Wir durften nicht sprechen, uns nicht umdrehen, nicht aufstehen“, sagt die ehemalige Widerstandskämpferin. Geackert wurde bei Siemens für die Kriegswirtschaft: Elektronische Bauteile für die Luftfahrt und vermutlich für den U-Boot-Bau standen auf dem Fertigungsprogramm.
In den fünfziger und sechziger Jahren, zuletzt sogar noch 1973, lehnten Gerichte die Ausgleichsansprüche ehemaliger deutscher Zwangsarbeiter (nicht gleichzusetzen mit Zahlungen etwa einer Haftentschädigung durch den Bund, die erfolgt ist) stets ab, weil die Zwangsarbeit angeblich nicht auf Initiative der Firmen zurückgeht. „Alle Unternehmen der Wehrwirtschaft mußten Zwangsarbeiter beschäftigen“, sagt dazu Siemens-Pressesprecher Peter Ruppenthal, das sei „kein spezielles Siemens-Thema“.
Die historischen Tatsachen scheinen dem klar zu widersprechen: Zwangsarbeiter seien angefordert worden, auch von Siemens, wie eine eidesstattliche Erklärung von Karl Sommer, ehedem SS-Obersturmbannführer, bei den Nürnberger Prozessen belegt: „Die Zuteilung von KZ-Insassen wurde regelmäßig durch die Firma beim WVHA Amtsgruppe D (Wehrverwaltungshauptamt der SS) direkt beantragt“ (Staatsarchiv Nürnberg, Bestand Kriegsverbrecher, Anklage Industrieller, Nr. NI-1065).
Der Ausgang des in erster Instanz etwa 18.000 Mark teuren Musterprozesses, den die „Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste“ und die „Interessengemeinschaft ehemaliger Zwangsarbeiter“ sowie der SPD-Bundesvorstand (aus Mitgliedergeldern) finanzieren, darf mit Spannung erwartet werden. Eine wichtige Rolle wird dabei spielen, ob die für Siemens vergleichsweise geringen Lohnersatzforderungen über 24.300 Mark, die Rentenersatzforderung über etwa 10.000 Mark sowie ein allgemeines Schmerzensgeld von 50.000 Mark nicht wieder als „verjährt“ abgeschmettert werden (Rechtsanwalt Müller spricht davon, daß die Verjährung durch die bisherige Rechtsprechung „gehemmt“ worden sei). Abgesehen von dem noch anstehenden Antrag von SPD und Grünen im Bundestag, eine Ausgleichsstiftung der deutschen Industrie einzurichten, würden die ehemaligen deutschen Zwangsarbeiter dann wieder einmal „hinten hinunterfallen“.
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