: „In der Doppelrolle von Lehrer und Freund“
■ Der Wirtschaftswissenschaftler, Ex-MdB und prominente grüne Realo, Jo Müller, über seinen „Doktorvater“ Alfred Sohn-Rethel
Ich mag nicht über den Tod schreiben, ich mag erst recht nicht über einen so sehr geliebten Menschen einen Nachruf schrei
ben, Trauern hab ich auch nicht gelernt, diese entlastende christliche Übung kam in meiner Erziehung nicht vor. Alfred Sohn
Rethel ist tot.
Er war mein „Doktorvater“, und es waren eben nicht nur sein Altersvorsprung und seine Klug
heit, die mich bei ihm diesen altertümlichen Begriff akzeptieren ließen. Während der fünf Jahre, die wir sehr eng miteinander gear
beitet haben, war er mir gegenüber gnadenlos kritisch, er konnte tyrannisch lange über eine inkonsistente Formulierung von mir diskutieren, aber er ließ einen eben nie allein. „Das Verhältnis eines
Steinmetzes zur Sprache“
Eine bleibende Erinnerung: Hochgerüstet mit unzähligen spitzen Bleistiften saß er hinter seinem Schreibtisch und feilte so lange an Sätzen, Begriffen und Thesen, bis sie ihm stimmten. So etwas konnte bei ihm Jahre, ja sogar Jahrzehnte dauern. Der Autor von „Geistiger und körperlicher Arbeit“ hatte in meiner Wahrnehmung das handwerkliche Verhältnis eines Steinmetzes zur Sprache. Ihm ging es nicht leicht von der Feder, er erkämpfte sich seine Texte Zeile für Zeile.
Alfred Sohn-Rethel ist die Doppelrolle von Lehrer und Freund deswegen so gut gelungen, weil er nie versucht war, beides opportunistisch zu verbinden. Mit dem Freund genoß man gemeinsam die Anekdote, den Wein, das Essen, mit dem Lehrer gab es geistige Arbeit pur. Diese strikte Trennung machte ihn übrigens erpreßbar. Kamen Studenten in seine Seminare als Freunde - und das war meist der Fall - war für ihn die Anekdote die selbstverständliche Antwort. Wie kein anderer hat er mit seinen Geschichten historische Zusammenhänge vermittelt. So streng seine wissenschaftlichen Texte waren, so nuancenreich, schil
lernd und variantenhaft waren seine „Geschichte“ und „Geschichten“.
Ich kenne niemand, der diese „mathematische“ und narrative Begabung zugleich hatte. Beides machte Sohn-Rethel auch dann spannend, wenn man nicht mit seinen Theorien übereinstimmte, was übrigens schon deswegen kaum jemand tat, weil sein theoretisches Anliegen nur unter erheblichen intellektuellen und zeitlichen Anstrengungen zu verstehen war. Für die moderne schnelle Rezeption ist Alfred Sohn-Rethels Theorie gänzlich ungeeignet.
Dies ist es, was mich an ihm immer so fasziniert hat: Da hat einer in einer Welt gelebt, die buchstäblich in Scherben fiel. Da wird einer auf der Flucht vor der Gestapo und Hitlers Truppen durch ganz Europa gejagt. Da landet einer zusätzlich noch wie alle anderen Emigranten bei Kriegsausbruch im englischen Internierungslager, und dieser Mann schreibt weiter überaus produktiv an seiner „kritischen Theorie“, nicht als wäre nichts passiert, sondern „weil es“ passierte. Nächtelang habe ich in England mit ihm über dieses Phänomen diskutiert. „Ja“, sagte er, „das war so. Ich konnte damals nicht ahnen, wie lange ich brauchen und wieviel Zeit mir verbleiben würde“.
Es tröstet, daß er viel Zeit gehabt hat und daß er sie so gut genutzt hat.
Jo Müller
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