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Charta für die Mitte von Berlin

Ausschnitt Leipziger und Potsdamer Platz  ■ D O K U M E N T A T I O N

1. Nach den unterschiedlichen Phasen der Zerstörung ist die Mitte Berlins kein Experimentierfeld für utopischen Städtebau, sondern ein Ort mit präzisen historisch -politischen Bindungen. Es geht um Stadtidentität und die Sicherung der Dominanz der einzigartigen Ensembles historischer Architektur und Stadtbaukunst.

2. Es geht um kritische Rekonstruktion einzelner Quartiere durch neue Architektur innerhalb der reflektierten historischen Strukturen.

3. In die neue Gestalt muß die ganze Breite der Geschichte eingehen: Die einstige historische Dichte, die Geschichte der Zerstörungen (samt ihrer Gründe).

4. Es ist Rücksicht zu nehmen auf historisch „verbranntes“ Territorium: perspektivisches Offenhalten der Neubebauung auf die Reichskanzleifläche, das Grundstück des Volksgerichtshofs und das RSHA-(Gestapo-)Gelände.

5. Es gilt, sich in der Dialektik von Außerordentlichkeit der Situation und der Gewinnung von Normalität zu bewegen. Architektur, die diese Balance nur nach der einen Seite bloß Superzeichen oder bloße Rekonstruktion des Gewesenen auflöst, wird dem Ort nicht gerecht.

6. Anerkennung und Wiederherstellung der historischen Straßenzüge und Plätze in ihrem Verlauf, ihrer Baufluchten und ihrer Typologie. Der Leipziger Platz muß als Teil des Systems der geometrischen Torplätze des 18.Jahrhunderts gesichert werden.

7. Die alte Potsdamer Straße muß wiederhergestellt werden mit neuem zur Stadtmitte orientiertem Haupteingang der Staatsbibliothek.

8. Auszugehen ist von den gegensätzlichen historischen Charakteren der beiden Plätze: geschlossener Staats-, Kultur - und Gesellschaftsplatz einerseits, offener volkstümlicher Vergnügungs-, Verkehrs- und Geschäftsplatz andererseits. Sie sind nicht der Raum einer neuen City oder eines dritten Stadtzentrums zwischen den beiden Stadthälften, sondern ihrer Funktion nach Zugangsbereich zur alten City.

9. Wie die Berliner Mitte hat auch das Potsdamer-Platz -Gebiet nur eine Chance, lebendige Stadt zu werden, wenn sie funktionale Durchmischung aufweist: Geschäftsviertel, Wohnen, Kultur, Handel, Dienstleistungen, Forum, Verwaltung, Erholung, Hotels, Gastronomie usw. Grundeinheit funktionaler Mischung ist die Parzelle.

10. Die Parzelle soll wieder zum Grundbaustein des städtebaulichen Instrumentariums werden. Das Blockdenken von Verwaltung und Investoren oder die Solitäre und Hochhäuser der internationalen Wettbewerbe verspielen die Chancen neuer städtischer Dichte und Mischung.

11. Bundes- und landeseigene Grundstücke dürfen nicht verkauft, sondern nur in Erbpacht vergeben werden, damit Öffentlichkeit und das Mitspracherecht der Bewohner an diesem entscheidenden Ort möglich bleiben. Außerdem müssen öffentliche Bereiche reserviert werden für Feste und Ereignisse der gesamten Stadt: republikanisches „Forum“.

12. Durch Weiterentwicklung des Linden-Statuts werden Höhenlimits für den Innenstadtbereich festgelegt. Grundstücksausnutzung soll in der Parzellentiefe, nicht in der Höhe erfolgen.

13. Die größte Verdichtung muß im Stadtzentrum erfolgen (stadtökologisches Grundprinzip: Was nicht im Zentrum Platz findet, zerstört die Peripherie).

Zur Sicherstellung der ökologischen Verträglichkeit dieser qualifizierten Dichte ist das entsprechende stadtökologische Instrumentarium einzusetzen.

14. Eine Modernisierung der vorhandenen Nahverkehrsanlagen ist Voraussetzung für die Lösung des Verkehrsproblems. Das Stadtzentrum muß in diesem Bereich zugleich unmittelbar an das internationale Hochgeschwindigkeitsnetz der Fernbahnen angeschlossen werden (Tieflage).

15. Eine Bundesgartenschau ist nicht längs der Mauer in Nord -Süd-Richtung, sondern entlang der Spree zu entwickeln.

16. Alle Planungsprozesse müssen mit umfassender Bürgerbeteiligung unter Einbeziehung öffentlicher und fachöffentlicher Diskussion erfolgen. Direkte Mitbestimmungsrechte der Stadtbevölkerung beider Seiten müssen gesichert werden.4.4.1990 Gruppe 9.Dezember

p.A. Tempelhofer Ufer 23/2

1000 Berlin 6

Die Gruppe 9.Dezember besteht aus einer Reihe renommierter Architekten, Stadtplanern und Stadthistorikern aus Ost- und West-Berlin.

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