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Das schwere Erbe des Stalinismus

Zum zweiten Mal stehen die Deutschen hilflos vor ihrer schrecklichen Vergangenheit / Der stalinistische Terror schlug grausame Wunden / Es wird lange dauern, bis die Geschichtslegenden der SED aufgearbeitet worden sind / Viele Verfolgte werden nicht rehabilitiert  ■  Von Hubertus Knabe

Es liegt gerade ein gutes Jahr zurück, daß der Schriftsteller Stephan Hermlin die deutschen Kommunisten energisch vor einem schweren Vorwurf in Schutz nahm: Als einziger Staat unter allen Volksdemokratien habe sich die DDR den Anweisungen des sowjetischen Geheimdienstchefs Berija widersetzt; als dieser wie in Budapest und Prag auch in Berlin nach Köpfen verlangte, habe Ulbricht mutig geantwortet: „Fahren Sie nach Hause.“

Die Legende, daß der Stalinismus mit Rücksicht auf die offene Grenze zur Bundesrepublik um die DDR einen Bogen gemacht hat, ist nicht nur von der SED, sondern auch von vielen aufgeklärten Intellektuellen mehr als drei Jahrzehnte lang verbreitet worden. Mit dem Untergang der SED-Herrschaft muß sie nun wohl endgültig der furchtbaren Wahrheit weichen, daß gerade in jenen Jahren, in denen Schriftsteller wie Heinrich Mann oder Bertholt Brecht ihre Hoffnungen auf den Neubeginn im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands setzten, der stalinistische Terror dort grausame Wunden schlug. Was bis in die jüngste Zeit nur allzu gerne als Propagandafeuer der extremen Rechten abgetan wurde, stellt sich nun als richtig heraus, vielfach sogar als untertrieben.

Ein Beispiel dafür ist der schreckliche Fund, den DDR -Bürger vor wenigen Tagen in der Nähe von Neubrandenburg machten: Sie stießen auf ein anonymes Massengrab, in dem Gefangene aus dem sowjetischen Sonderlager9 verscharrt worden waren. Wie hier hatte der sowjetische KGB-Vorgänger NKWD nach Kriegsende auch in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Buchenwald, im berüchtigten Zuchthaus Bautzen sowie in zahlreichen weiteren Lagern und Gefängnissen Zehntausende unter menschenunwürdigen Bedingungen zusammengesperrt. Die Mehrheit von ihnen war unschuldig oder aufgrund von Denunziationen, geringfügigen Vergehen oder kollektiver Straffestsetzung inhaftiert worden. Eine im Garten vergrabene Pistole oder die (Zwangs -)Mitgliedschaft in der „Deutschen Arbeitsfront“ konnten ausreichen, um zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und in die Sowjetunion deportiert zu werden. Nur wenige Monate später wurden die ersten Sozialdemokraten verhaftet. Sie kamen manchmal ausgerechnet dorthin, wo sie schon bei den Nazis saßen.

Das stalinistische Erbe

zeichnet sich erst

in Umrissen ab

Das ganze Ausmaß des stalinistischen Erbes zeichnet sich sechs Monate nach der Honecker-Absetzung erst in Umrissen ab. Doch erscheint es schon heute als furchtbar genug, daß es die Deutschen ähnlich verfolgen könnte wie die Verbrechen des Nationalsozialismus. Zu den „weißen Flecken“ der Geschichte gehört:

-Das schrecklich Schicksal der deutschen Emigranten, KPD -Funktionäre und ihrer Familien in der Sowjetunion, die im Land ihrer größten Hoffnungen ohne jeden Grund verhaftet, in Lager gesperrt, erschossen oder an die Nazis ausgeliefert wurden.

-Die furchtbaren Erfahrungen von Zehntausenden, die nach 1945 von sowjetischen Organen unschuldig verhaftet, interniert oder verschleppt wurden, unter ihnen ein hoher Anteil von Jugendlichen und etwa 5.000 Sozialdemokraten, von denen 400 in der Haft verstarben.

-Die von Stephan Hermlin fälschlicherweise bestrittene Vorbereitung eines deutschen Schauprozesses nach dem Muster von Ungarn und der CSSR, in dem führende Kommunisten wie Kurt Müller, Leo Bauer oder Paul Merker zu absurden Geständnissen gezwungen werden sollten und der DDR -Staatssicherheitschef Erich Mielke persönlich seine Opfer gefügig zu machen versuchte. Stalins Tod verhinderte zwar diesen Prozeß, doch die für die Anklage Vorgesehenen saßen jahrelang in Haft, wurden gefoltert, in die Sowjetunion deportiert oder tauchten - wie der Altkommunist Willi Krekemeyer - nie wieder auf.

-Der Schauprozeß gegen Walter Janka, Gustav Just und weitere kommunistische Intellektuelle im Jahre 1957, mit dem die vom XX. Parteitag der KPdSU ausgelösten Hoffnungen auf eine Entstalinisierung in der DDR brutal zurückgedrängt werden sollten. Führende Schriftsteller wie Anna Seghers sahen ihn schweigend mit an.

-Die Einschüchterung und Verfolgung von Zigtausenden, die aus politischen Gründen in das Räderwerk von Staatssicherheit und DDR-Justiz gerieten, davon nach Angaben des geschäftsführenden Justizministers Kurt Wünsche allein 40.000, die einen Anspruch auf strafrechtliche Rehabilitierung haben.

Wie schwierig der Umgang mit dieser noch weitgehend im Dunkel liegenden Vergangenheit ist, zeigte kürzlich eine Tagung der Evangelischen Akademie in West-Berlin, auf der Historiker, Juristen und Betroffene aus der DDR erstmals das stalinistische Erbe diskutierten. Nicht anders als nach dem Ende des Nationalsozialismus bestimmen Verdrängung und Hilflosigkeit das Verhalten der Menschen, und wieder ist der bewußtlose Sprung in das neue System für viele der naheliegendste Weg, das Alte abzuschütteln. Während die Opfer davor zurückscheuen, über das ihnen zugefügte Unrecht öffentlich zu sprechen, wollen diejenigen, die in der Vergangenheit geschwiegen oder - und wie indirekt auch immer - daran mitgewirkt haben, ebenfalls nicht daran erinnert werden. Erschreckend ist vor allem, wie sehr die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus an denen vorbeigeht, deren Herzen links schlagen und die deshalb eigentlich eine besondere Verantwortung für die Verbrechen empfinden müßten, die im Namen des Sozialismus begangen wurden.

So ist die Bewältigung der stalinistischen Vergangenheit gegenwärtig in erster Linie eine Aufgabe der Juristen, die seit Wochen darüber nachdenken, wie die politischen Verfolgungen zu Unrecht erklärt werden können, ohne die gesamte Rechtssprechung der letzten vierzig Jahre verwerfen zu müssen.

Manches erinnert fatal

an die Justizgeschichte

der Bundesrepublik

Daß ausgerechnet das Ministerium der Justiz - neben dem Ministerium für Staatssicherheit das wichtigste Organ politischer Unterdrückung in der DDR - die Federführung übernommen hat, erinnert fatal an die Justizgeschichte der Bundesrepublik: Ehemalige Nazi-Richter hatten über Wiedergutmachungen zu entscheiden. Ein im Entwurf vorliegendes Rehabilitierungsgesetz sieht vor, daß politische Verfolgte in Zukunft ihre Rehabilitierung und Entschädigung beantragen können. Vor einem Bezirksgericht müssen sie dafür nachweisen, daß sie verurteilt wurden, weil sie verfassungsrechtlich garantierte Rechte wahrgenommen hatten, oder wegen politischer Straftatbestände, die - wie „staatsfeindliche Hetze“ oder „landesverräterische Nachrichtenübermittlung“ - in Kürze aufgehoben werden sollen. Offen ist dabei noch, ob der entstandene Schaden berechnet beziehungsweise geschätzt oder mit Pauschalbeträgen in Höhe von 10.000 bis 20.000 Mark „abgegolten“ werden soll.

Ein furchtbares Verfahren für die Betroffenen

Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, wie furchtbar ein solches Verfahren für die Betroffenen verlaufen könnte. Zum einen sind jene Verfolgungen, die sowjetischen Stellen nach 1945 vornahmen, aus rechtlichen Gründen überhaupt kein Bestandteil der Rehabilitierungen; Ähnliches gilt für jene, die nie ein Urteil erhalten haben. Zum zweiten haben die DDR-Juristen mit dem geplanten Antragsverfahren den Opfern die Nachweispflicht zugeschoben und behalten sich selber die Entscheidung vor, ob jemand wirklich zu Unrecht aus politischen oder vielleicht doch aus legitimen strafrechtlichen Gründen verurteilt wurde.

Das erinnert an den Streit vor dem Bundesgerichtshof im Jahre 1956, ob Roma und Sinti von den Nazis wirklich aus rassistischen oder aus polizeilich vertretbaren Gründen deportiert wurden. Und auf Fragen nach ihrer eigenen Verstrickung in das Unrecht argumentieren die Juristen damals wie heute, daß sie sich immer nur streng an Recht und Gesetz gehalten hätten. Da verwundert es kaum noch, daß die Gerichte die Betroffenen in der DDR bis heute mit lapidaren Antworten abspeisen, wenn diese wenigstens ihr Urteil einmal zu Gesicht bekommen wollen. Den Politischen wurde es nämlich aufgrund einer besonderer Verfügung zumeist nicht ausgehändigt.

In ähnlicher Weise unbefriedigend bleibt auch das, was bislang die Historiker in der DDR zur Aufarbeitung der Vergangenheit beigetragen haben. Gerade jene, die bislang für die Geschichte der DDR zuständig waren, haben sich durch ihre affirmativen Darstellungen kompromittiert und bis heute zu keiner gemeinsamen Selbstkritik gefunden. Allein der Schaden, der durch den unerträglichen Personenkult um Ernst Thälmann - der auf Stalins Weisungen handelte - in den Köpfen von Kindern und Jugendlichen angerichtet wurde, ist unermeßlich. Und es wird lange dauern, bis die Geschichtslegenden der SED wirklich aufgearbeitet und widerlegt sind. Für viele hat es dabei zumindest einen seltsamen Beigeschmack, wenn ausgerechnet jene jetzt in dieser Arbeit vorangehen, die bis vor kurzem noch die wichtigste Werkstätte für die Umdeutung der Vergangenheit darstellten. So hat sich am früheren Institut für Marxismus -Leninismus, wo die Akten von KPD und SED jahrzehntelang hinter sieben Siegeln lagerten, eine Arbeitsgruppe „Opfer des Stalinismus“ gebildet, die nunmehr Betroffenenberichte sammelt und ein Forschungs- und Konsultationszentrum errichten will.

Betroffenengruppen

formulieren Unbehagen

Aus ehemals streng vertraulichen Unterlagen soll darüber hinaus in Kürze eine Liste von über tausend Personen publiziert werden, die als deutsche Antifaschisten in der Sowjetunion verfolgt wurden. Auch eine Biographie des Ulbricht-Opfers Merker ist in Vorbereitung.

Das Unbehagen an dieser Art von Vergangenheitsbewältigung bringen bislang nur einige wenige Betroffenengruppen zur Sprache, die jedoch im Rummel um Wahlkampf und Regierungsneubildung weitgehend an die Wand gedrückt worden sind. So haben sich ehemalige Bautzener Häftlinge, die von sowjetischen Militärtribunalen verurteilt wurden, zu einer Interessengruppe zusammengeschlossen, um wenigstens ihre Ansprüche auf Anerkennung der Haftzeit für die Rentenberechnung sowie auf Rehabilitierung und Entschädigung anzumelden. Eine Berliner „Initiativgruppe Gerechtigkeit“ setzt sich vor allem für die vielen namenlosen Opfer ein. Sie will sie rechtlich und psychologisch beraten und über ihr Schicksal berichten. Allein bei diesen beiden Gruppen haben sich in wenigen Wochen rund 1.000 Betroffene gemeldet, mit oftmals erschütternden Biographien, über die sie in teilweise unbeholfen geschriebenen Briefen erstmals berichten. Auch in Leipzig und Karl-Marx-Stadt haben sich ähnliche Initiativen gebildet und einen „Bund stalinistisch Verfolgter“ ins Leben gerufen.

Die verdrängte Welt des Grauens

Die Bericht der Opfer lassen eine verdrängte Welt des Grauens wiederauferstehen, die im Stalinismus und danach errichtet wurde. Da ist von Wasserzellen, nächtlichen Verhören oder katastrophalen hygienischen Zuständen die Rede, da erinnern sich Betroffene an die Verabreichung von Psychopharmaka oder an die Aufhetzung von kriminellen Mitgefangenen. Da berichtet eine Frau, wie sowjetische Stellen ihren Mann aufgrund einer Namensverwechslung verhafteten und der verängstigten Frau antworteten: „Wir lassen Ihren Mann frei, wenn Sie uns den wirklich Gesuchten herbeischaffen!“

Widerstand gegen Trauerarbeit

Ob die Deutschen beiderseits der Elbe an diese Vergangenheit wirklich erinnert werden wollen, erscheint nach den Erfahrungen mit der mißlungenen Aufarbeitung des Nationalsozialismus zumindest fraglich. Und wie damals deutet alles darauf hin, daß die staatlich legitimierten Täter in Richterrobe oder Uniform nur selten zur Rechenschaft gezogen werden. Aus unterschiedlichen Motiven wehren sich die Menschen gegen die notwendige Trauerarbeit zum Stalinismus, die doppelt schwierig ist, weil dieser so tragisch mit den Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt ist. Denn gerade diejenigen, die die Deutschen im Namen des Antifaschismus zu Recht immer wieder an ihre historische Schuld erinnert haben, tun sich schwer mit dem Eingeständnis, daß die Verbrechen Stalins denjenigen Hitlers nicht nachstehen. So wäre wohl schon viel erreicht, wenn es gelänge, wenigstens die Ergebnisse jener simplen Gleichung aus den Köpfen der Menschen zu verbannen, daß der Feind meines Feindes mein Freund ist.

Hubertus Knabe ist Studienleiter an der Evangelischen Akademie in West-Berlin.

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