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Gewerkschafts-Aufbruch in die Marktwirtschaft

■ FDGB legt Rolle des „Transmissionsriemens“ ab / Interessenvertreter der Beschäftigten und Tarifpartner der Unternehmen

Im Haus des FDGB: Warten auf ein Gespräch mit der stellvertretenden Vorsitzenden des Geschäftsführenden Vorstandes des Dachverbandes der Gewerkschaften, Kollegin Prof. Schießl. Sie hat leider keine Zeit, so daß die Abteilungsleiterin für Soziales und Ökologie, Helga Jenko, sich meiner annimmt. Wir verlassen die ehemaligen „Tisch -Stuben“ und gehen in den alten Bürobau Haus B, in dem bereits neue Vereinigungen und Zeitschriftenredaktionen Räume belegen.

Kollegin Helga Jenko kommt aus dem Gesundheitswesen. Ihre Arbeit beim Dachverband macht sie mit fraulichem Charme und bewundernswerter Energie. Sozialpolitik der Gewerkschaften bedeutet für Helga Jenko und ihre KollegInnen zuerst einmal, juristische und politisch-rechtliche Klarheit über den Spielraum neuer gewerkschaftlicher Rechte und zu schaffender Garantien zu bekommen. Sie schließt dazu den ständigen Blick über die Schulter der Kollegen vom DGB unbedingt ein.

Die vom Runden Tisch und von der alten Volkskammer gebilligte Sozialcharta soll gemeinsam mit den acht Millionen Beschäftigten in der DDR mit konkreten Fakten untersetzt werden. Schnellstens müssen also der Volkskammer Gesetzentwürfe unterbreitet werden: Novelle des Arbeitsgesetzbuches, Konkretes und Bindendes zur „Demokratisierung der Wirtschaft“, zur „Gleichstellung der Geschlechter“ und anderen deklarierten Schwerpunkten der Sozialcharta. Die entsprechenden Gesetze der BRD werden durchforscht, Fachleute vom DGB bringen ihre Erfahrungen ein, und - der DGB will den Beitrag des FDGB für ein dichteres Netz sozialer Sicherheit im geeinten Deutschland.

Es soll um die gesetzliche Einführung der 40-Stunden -Arbeitswoche (für Schichtarbeiter 35) gehen. Erhoffter Effekt: weniger Arbeitslose, mehr Flexibilität in Handel und Dienstleistungen, Garantie der Bezahlung aller Überstunden.

Der FDGB hat aber keine parlamentarische Vertretung mehr. Wer soll diese Gesetze in der Volkskammer ein- und durchbringen? Helga Jenko setzt da auf „Parteien, die unseren Zielen nahestehen“ und schließt sich der Meinung an, daß der Adressat solcher Initiativen der entsprechende Ausschuß der Volkskammer (Wirtschaft und Soziales) sein muß, der Beauftragte des FDGB als Mitarbeiter oder Berater aufnehmen sollte.

Sie räumt ein, daß es fraglich ist, ob zum Beispiel das Arbeitsgesetzbuch gerettet werden kann oder nicht. Der Sturm von Parteien und Unternehmerverbänden (BRD) und vieler „Jungunternehmer“ (DDR) gegen das neu durchgeboxte Gewerkschaftsgesetz ließ bereits dunkle Wolken am Horizont aufkommen.

Marktlage und Erfahrungen des DGB zeigen, daß die neu zu erkämpfenden Rechte der Gewerkschaften gegen die sich schnell konstituierenden Unternehmerstrukturen in vielen Bereichen der Leichtindustrie und nichtproduzierender Zweige am stärksten gefährdet sind. Mit der Tarifautonomie der Industriegewerkschaften werden sich voraussichtlich die Löhne in Bereichen der IG Metall, IG Chemie und zum Beispiel IG Bergbau und Energie eher anheben lassen, als bei den selbst in Umstrukturierung begriffenen IG der Leichtindustrie, wo traditionell die vor allem von Frauen besetzten Billigberufe vorherrschen.

Drückend sind auch Probleme des nachlassenden Solidarverhaltens zwischen verschiedenen Beschäftigungsgruppen, so daß sozial Schwache schnell durch das noch nicht eng genug geknüpfte soziale Netz fallen, beklagt Helga Jenko. Die, die (noch) Arbeit und eine berufliche Perspektive haben, müßten begreifen, daß Arbeitslosigkeit, soziale Einbußen und Krankheiten jeden betreffen können. Es müssen also jetzt die gesetzlichen sozialen Sicherungen eingebaut werden, um für alle Beschäftigten und die, die schon jetzt beim Amt für Arbeit registriert sind, die Maschen des sozialen Netzes dicht genug zu knüpfen.

Am 19. April werden die Zentralvorstände der Industriegewerkschaften ein Sozialprojekt /Sozialplan beraten, wie er in jedem Betrieb erkämpft werden soll. Es geht um gute und verbesserte Arbeits- und Lebensbedingungen, Gesundheitsschutz und Sozialeinrichtungen in jedem Betrieb, aber auch schon als Bestandteile vorgesehener Investitionen und Strukturveränderungen.

Die Gewerkschaften müssen schnell lernen, die neu zu bildende Regierung in die Pflicht zu nehmen, also Wahlversprechen der sie bildenden Parteien einfordern und auch deren westliche Partner beim Wort nehmen. Hatte sich doch der designierte Wirtschaftsminister Pieroth für das weitere Bestehen von Kindergärten ausgesprochen, erinnert Helga Jenko. Lernen und effektiv einsetzen müssen die Gewerkschaften auch ihre spezifischen neuen Kampfmethoden, bis hin zum Streik. Im Streit um die Währungsumstellung erscheint der Streik jedoch nicht als geeignetes Mittel, da er sich gegen die falschen Adressaten richten würde. Bei den Subventionen sollte endgültig mit dem Gießkannenprinzip Schluß gemacht werden. Statt dessen müssen sie sozial gerecht verteilt, also im Sinne eines sozialen Sicherungsnetzes eingesetzt werden, sicher auch nicht in der bisherigen Höhe.

Im neuen Gewerkschaftsgesetz gibt es keine Hinweise auf Betriebs- oder Belegschaftsräte oder auf ein Betriebsverfassungsgesetz. Die Unternehmer wollen Betriebsräte statt BGL, Betriebsverfassungsgesetz statt Gewerkschaftsgesetz. Der FDGB möchte weiter in den Betrieben bleiben und hält ein Betriebsverfassungsgesetz, in der DDR konzipiert, für eine dringende Aufgabe der Volkskammer, weil die DDR sonst das BRD -Betriebsverfassungsgesetz übergestülpt bekommt. Damit ist auch klar, daß die Gewerkschaften an einer engen Zusammenarbeit mit den bereits entstandenen Betriebs- und Belegschaftsräten interessiert sind.

Helga Jenko warnt vor Spekulationen und Angstprognosen über die Arbeitslosenzahlen. Die Veränderungen in der DDR -Wirtschaft sollten vor allem die Kapazität der produzierenden Bereiche und der sträflich vernachlässigten Infrastruktur verbessern. Die Gewerkschaften müssen mit den Kommunen und in jedem Betrieb Beschäftigungsprogramme durchsetzen. In Zusammenarbeit mit den Ämtern für Arbeit sind deren Ziele in Arbeitsbeschaffungs- und Umschulungsprogrammen zu untersetzen. Vor geplanten Entlassungen müssen die Beschäftigten auf diese Entscheidungen vorbereitet und direkt in die entsprechenden Programme übernommen werden. Solche Rechte und Verbindlichkeiten müssen von den Gewerkschaften jetzt durchgesetzt werden, ehe die Gewerkschaftsleitungen und -vorstände selbst eine Nummer beim Amt für Arbeit bekommen.

Marion Fischer

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