: EINE NACHT IM CHAOS
■ Die Mandelbrot-Menge im Cyberspace im Ufo
Ebensowenig wie dem Fernsehbild eine andere Primärwirklichkeit als die der digitalen Ja-Nein -Entscheidung zugrunde liegen kann, ist es schlechterdings möglich, eine Mandelbrot-Menge als schokoladenüberzogene Marzipanmasse dem kulinarischen Genuß zuzuweisen. Es wird jetzt also nicht gegessen, sondern hereingeschaut.
Um 24 Uhr im Cyberspace in der Großgörschenstraße, just gegenüber dem indonesischen Traditionsrestaurant Tuk-Tuk oder der Fahrradfachhandlung Machnow. Da spätestens jetzt jede/r das durch keinen Firmennamen ausgewiesene Cyberspace finden wird, bleibt bloß zu ergänzen, daß dieses Unternehmen nächtlichen Besuchern gegen Entgelt ein schwarzgestrichenes Bewegungsstudio nebst geistigen und ungeistigen Getränken und einer auf das Zentralnervensystem abzielenden Musik zur Verfügung stellt. Daneben bzw. mittendrin an der Wand befindet sich eine recht große Projektionsfläche für Videobänder der zeitgemäßen Art.
Vermutlich ist es eben dieser Videowand geschuldet, daß sich das hiesige Publikum deutlich von dem anderer Diskotheken unterscheidet: denn neben den in ihren blankpolierten Magnetschuhen steckenden, motorische Disfunktionalitäten selbst therapierenden AllnachttänzerInnen sind jede Menge Menschen zu entdecken, die in einem jungen Alter von etwa 12 Jahren - vor gar nicht allzulanger Zeit also - die Einsteinsche Relativitätstheorie nachgerechnet und verstanden zu haben scheinen. Was nun heute abend dazu führt, daß sie sich die Hocker von der Bar wegholen und sich mit ihnen auf der Tanzfläche vor der Videowand positionieren.
Gezeigt wird Nothing but Zooms, eine Darstellung der Mandelbrot-Menge. Präsentiert von Art-Matrix, einer Gruppe von Mathematikern an der Stanford University, USA, gesponsert von International Business Machines Corporation. In Farbe.
Die Mandelbrot-Menge, nach dem Mathematiker Benoit Mandelbrot benannt, ist das Resultat der rekursiven Quadrierung aller derzeit maschinendenkbaren komplexen Zahlen, wobei komplexe Zahlen einen imaginären Anteil i besitzen, der als Quadratwurzel aus -1 definiert ist. Die rekursive Quadrierung kann man sich als Rückkopplungsschleife vorstellen, d.h. in einem dynamischen Rechenprozeß wird das Resultat der vorausgegangenen Rechenoperation aufgenommen und mit diesem weitergerechnet. Was dabei entsteht, ist ein nicht vorherberechenbares Zahlenchaos, d.h. die Ordnung der Zahlen schlingert ins Chaotische.
Wann genau dieser Übergang von der Ordnung ins Chaos stattfindet, fand der Chaos-Forscher Mitchell Feigenbaum heraus: immer wenn x und y in der Rückkopplung im Verhältnis 1:4,669... stehen - egal wie einfach oder kompliziert die mathematische Funktion ist -, kippt die Gleichung mit schöner Regelmäßigkeit aus der Ordnung. Dem Chaos liegt anscheinend eine universelle Konstante zugrunde, mit der bis heute niemand so recht etwas anzufangen weiß.
Was dagegen mit der Mandelbrot-(Zahlen)Menge machbar ist, kann auf der Videowand betrachtet werden: sie läßt sich z.B. graphisch darstellen. Zu sehen ist das „Apfelmännchen“ bzw. ein auf die Seite gekippter Buddha im siamesischen Ornat. Harte Space-Musik dröhnt aus den Lautsprechern. Die Rechenoperation beginnt. Der Rechner greift sich einen Randbereich aus der Schulterpartie dieses Ornats heraus, zoomt sich heran. Keine Zahl ist zu sehen. Dafür fliegt der Betrachter mitten hinein in die bizarre Ornamentik eines Irgendwie-Hirschkopfes, dessen Geweihende bei näherer Betrachtung der Schwanz eines Seepferdchens, bei noch näherer die Waffe des Skorpions ist, welche sich über harmlose gelb-rote Figurationen eines rechtsdrehenden Wiener Walzers schließlich in eine Quadrille aufzulösen scheint, in deren Mittelpunkt wieder das Ausgangsbild-Apfelmännchen ruht. Schnitt.
Diese farbenprächtige Flugoperation ins Innere des Chaos wiederholt sich etliche Male, da die Videomacher immer neue Ausschnitte der Mandelbrot- oder Apfelmännchen-Menge rechnen lassen. Und immer wiederholt sich das gleiche Phänomen: in der Welt des Chaos herrscht die Disziplin der Formenmannigfaltigkeit unter der allgegenwärtigen Despotie des immer wieder ähnlich auftauchenden Apfelmännchens - die Wiederkehr der Makrostruktur in der Mikrostruktur qua Rechner ad infinitum. Wenn der Rechner so weit rechnen könnte.
Da die Matrix-Gruppe aber nur für 40.000 Dollar Rechenzeit kaufte, werden wir vorerst nicht erfahren, ob die Video-Show als Disko-Erlebnis mehr zutage fördert als die visualisierten Erinnerungen der Halluzinogendrogenexperten aus den sechziger Jahren. Eben in diesem Zusammenhang, d.h. ohne den wissenschaftlichen Hintergrund der Chaos-Forschung, ist das Nothing but Zooms-Video eine sich schnell verschleißende Aufregung: aus der Nähe betrachtet, zerfällt die Ordnung der Dinge in gar eigenartig irisierende Partikel.
Und so ist es dann auch eine schöne Erinnerungsschleife, wenn nach Beendigung des Mandelbrotschen Musik-Videos der Mann am Mischpult das Gerät aus der Frühära der Musikdrogeninnerspacedisco einschaltet: das gute alte Strobo -Light.
Peter Blie
„Nothing but Zooms“ im Cyberspace im Ufo, Großgörschenstraße. Heute um 24 Uhr.
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