: Zweite Chance
■ Wer gewinnt die Hegemonie innerhalb der DDR-Opposition?
Die erste und vermutlich letzte frei gewählte DDR-Regierung steht, besser: sie hängt. Am Bonner Tropf. Vom Aufbruch in eine andere Gesellschaft ist wenig zu spüren. Viel jedoch von kleinlich-arithmetischer Portionierung der Macht. Selbst das Kabinett Modrow hatte mehr Ausstrahlung als diese neue graue Buchhalterriege. Und die Opposition?
Daß - nach der Dynamik des November 89 - die Ministerpräsidentin heute Bärbel Bohley heißen könnte, davon wagte sie nie zu träumen. Vorwiegend mit sich selbst und ihrem Verhältnis zur Macht beschäftigt, haben die Parteien vom Bündnis 90 den freien Fall von der ersten und wichtigsten oppositionellen Kraft zur Dreiprozentpartei vor allem selbst betrieben. Die harte Landung am Rande der Bedeutungslosigkeit ist keine Bestätigung dafür, daß die aufklärerische Kraft quasi naturgesetzlich die Minderheitenposition einnehmen muß, sondern Ergebnis einer selbstgewählten Kleinheit. Die Angst vor der großen Herausforderung. Der Schrebergarten als sicherer Hort.
In der jetzigen Konstellation einer großen Koalition bekommt dieses Bündnis eine neue Chance. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Hegemonie innerhalb der Opposition. Für die nahe Zukunft heißt das: Wer wird in der kommenden großen Krise der Anwalt der Enttäuschten, die Stimme der Freigesetzten, der Übersetzer der Betrogenen? Die PDS? Oder die Väter und Mütter der Revolution? Die Zahl der Volkskammersitze ist dafür nicht entscheidend, sondern politische Intuition, Aggressivität, Einmischung und die Nähe zu den großen Problemen des Landes.
Noch immer hat das Bündnis die besten Köpfe. Und - die Geschichte ist gnädig - es hat eine zweite Chance, Volkspartei zu werden. Die hat es aber nur, wenn es selbst groß werden will, wenn es sich nicht nur in Abgrenzungsritualen zur PDS erschöpft, sondern die absehbaren Schwächen dieser Regierung benennt und attackiert. Das Bündnis muß - jenseits der Bonner Kommandos für die Meckels und de Maizieres - eine eigenständige Alternative entwickeln; denn nur so könnten sich auch die DDR-Bürger jene Selbstachtung zurückholen, die mit dieser Regierung von Bonns Gnaden zwangsläufig verlorengehen wird. Aber dazu muß das Bündnis sein selbstgewähltes Ghetto verlassen. Klein, aber oho ist auf die Dauer ein schlimmes Kompliment. Dann schon lie ber größenwahnsinnig. Oder ganz einfach: machtbewußt.
Manfred Kriener
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