Mit Schnellgericht gegen Ladendiebe

■ Seit Öffnung der Mauer nehmen Ladendiebstähle stark zu / Justizsenat plant Einrichtung von Schnellgerichten / Rechtsnachteile für DDR-Bürger und Polen / Hohe Dunkelziffer / Schnellgerichtsverfahren willkürliches Exempel ohne Aussicht auf Senkung der Fallzahlen

Ladendiebstahl ist „in“. Zur Zeit werden in Berlin im Monat 3.500 bis 4.000 Ladendiebe erwischt. Das ist eine Steigerung von über 200 Prozent im Vergleich zu den Zeiten vor der Maueröffnung. Dieser Anstieg geht fast ausschließlich auf das Konto von Besuchern aus der DDR und aus Polen. Nun planen die Senatsverwaltung für Justiz und der zuständige Amtsgerichtspräsident den verstärkten Einsatz von Schnellgerichtsverfahren, um erwischte Ladendiebe vermehrt schon am Tattag rechtskräftig aburteilen zu können.

Die hiesigen Strafverfolgungsbehörden, vor allem die Polizei, bewegten sich schon vor dem 9. November am Rande ihrer Belastungsgrenze. Immer noch muß bei jedem angezeigten Ladendieb ein zweiköpfiges Team der Schutzpolizei am Tatort erscheinen, die Personalien des Beschuldigten aufnehmen und später eine Strafanzeige schreiben. Auf anderer Ebene wird jeder Vorgang noch einmal bearbeitet und erst dann der Amtsanwaltschaft übergeben. Grob geschätzt werden bei der Berliner Polizei in diesem Jahr mehr als 70.000 Arbeitsstunden allein für die Bearbeitung von Ladendiebstahl anfallen.

Angesichts dieser Entwicklung geraten die zuständigen Senatsverwaltungen zunehmend unter Entscheidungsdruck. Die Lobbyisten des Einzelhandels fordern härtere Maßnahmen - die Berufsverbände der Polizei klagen über die Arbeitsbelastung.

So wurde bereits am 23. November zwischen Polizei und Amtsanwaltschaft vereinbart, bei Ersttätern und einer Schadenssumme von unter 100 DM die Formalitäten zu vereinfachen und die Verfahren „automatisch“ nach § 153 StPO ohne Buße einzustellen. Nun ist geplant, die Schnellgerichtsbarkeit personell auszubauen, um so erwischte Ladendiebe verstärkt bereits am Tattag rechtskräftig zu verurteilen.

Gerade die Schnellgerichtsverfahren allerdings sind hochgradig problematisch. Hier werden nämlich fast ausschließlich Personen abgeurteilt, die ihren „Wohnsitz außerhalb des Geltungsbereichs der StPO“ haben - das heißt im Klartext Besucher aus der DDR und aus Polen - denn bei diesen wird allein aufgrund des Wohnortes, mit einem gewissen Recht, Fluchtgefahr unterstellt. Diese automatische Benachteiligung setzt sich dann auch bei der Verhandlung fort. Macht der Beschuldigte Aussagen zu seiner Entlastung, zu deren Überprüfung die Ladung von Zeugen notwendig wäre, so hat er nur die Wahl, mindestens eine Woche in der Untersuchungshaft auf den notwendigen Fortsetzungstermin zu warten oder aber seine eigene Aussage schnellstens zu einer unwahren Schutzbehauptung zu erklären.

So kommt es immer wieder vor, daß Menschen, denen es an der genaueren Kenntnis der Tücken der Strafprozeßordnung fehlt oder die bewußt auf die Ladung von Zeugen bestehen, schon vor der eigentlichen Aburteilung mit einer Woche Haft „bestraft“ werden. Es handelt sich hier wohlgemerkt nicht um den bösen Willen einzelner Richter oder Amtsanwälte. Diese Diskriminierung ist strukturell. Der Richter muß hier Fluchtgefahr unterstellen, schon allein, weil vernünftigerweise nicht davon ausgegangen werden kann, daß z.B. ein polnischer Tagesbesucher sich nun eine Woche irgendwo in Berlin aufhält, um auf seinen Prozeß zu warten.

Angesichts der hohen Dunkelziffer - auf einen erwischten Ladendieb kommen mindestens 15 bis 20 erfolgreiche Täter wird mit dem Schnellgerichtsverfahren ein willkürliches Exempel statuiert, ohne die geringste Aussicht, damit die Fallzahlen zu senken. In einer Situation derartig großer Wohlstandsdiskrepanz zwischen Berlin und seinem Einzugsbereich, wird der Ladendiebstahl die einfachste Möglichkeit zur illegalen Befriedigung der zwangsläufig aufkommenden Bedürfnisse bleiben. Kurz- und mittelfristig muß deshalb mit einem weiteren Anstieg gerechnet werden. Schon jetzt registriert die Polizei immer mehr Besucher aus der Tschechoslowakei unter den Tätern.

Das Schnellgerichtsverfahren ist die denkbar schlechteste Reaktion auf diese Entwicklung. Zur Zeit gibt es in Berlin nur ein Bereitschaftsgericht. Selbst mit einer deutlichen Erhöhung der Kapazitäten wird nur ein verschwindend geringer Anteil der Täter im Schnellverfahren abgeurteilt werden können. Damit würden aber weder die Zahlen gesenkt noch die Arbeitsbelastung der Polizei vermindert. Es drängt sich der Verdacht auf, daß hier, auf dem Rücken einiger Täter, der Öffentlichkeit der Eindruck effektiver Behördentätigkeit vermittelt werden soll.

Es verwundert, daß demgegenüber niemand auf die Idee kommt, die Warenhäuser stärker in die Pflicht zu nehmen. Hier werden durch Rationalisierung, Personaleinsparung und immer neue verführerische Warenpräsentationsmethoden die hohen Diebstahlszahlen „produziert“. Hier werden mit denselben Methoden gerade in der jüngsten Zeit steigende Gewinne verbucht. Es kann nicht die Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden sein, die „Diebstahlsförderungsstrategien“ dieser „Anstifter“ personell auszugleichen.

Norbert Schellberg