: Ist Glasnost was Spirituelles?
■ Die KongreßbesucherInnen fanden alles irgendwie interessant
Der Gang in die Unterwelt führte buchstäblich nicht in die Finsternis, sondern ans Licht - das Licht der Erkenntnis nämlich. In der Cueva de los Verdes, einem weitverzweigten Höhlensystem im Norden Lanzarotes, wurde dieser scheinbare Widerspruch deutlich: Auf dem Weg ins Innere klaffte unvermittelt ein großes Loch im Boden, das tief hinunter den Blick in eine andere große Höhle freigab. Niemand wagte sich dichter heran. Wolfgang Maiworm, der die Etora-BesucherInnen durch die Höhlen führte, erklärte, daß dieser Ort ein Geheimnis berge. Er nahm einen kleinen Stein und warf ihn in die Tiefe. In die Tiefe? Das Loch war weg, Wellen kräuselten sich, und der vermeintliche Abgrund wurde zur großen Pfütze. Wolfgang lächelte: „Nicht alles, was ihr seht, ist das, was es zu sein scheint.“ Wie konnte es nur passieren, daß man eine 25 Zentimeter tiefe Pfütze für einen gefährlichen Abgrund hielt? Auch wenn man im nachhinein weiß, daß das schwarze, völlig bewegungslose Wasser die Höhendecke widerspiegelte? Die Lektion saß.
Die wenigsten BesucherInnen des Zeitgeist-Kongresses auf Lanzarote gehören dem esoterischen Spektrum an, wenn auch eine gewisse Aufgeschlossenheit durchaus vorhanden war. Viele kamen einfach, um mit PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen „hautnah“ zu diskutieren. „Warum Berührungsängste?“ fragt Rosi, lebensfrohe und selbstbewußte Kunsthändlerin aus Kiel. „Hier ist die Atmosphäre viel offener, und die Gespräche laufen nicht so engstirnig ab.“ Sie interessiert sich nicht nur gelegentlich für das Sternzeichen ihrer Mitmenschen (das dann bei einer gemeinsam geleerten Flasche Wein schnell unwesentlich wird), sondern auch für die handfesten Probleme, die die gegenwärtige Zeit mit sich bringt. Ihr Freund Alexander, von Beruf Ozeanograph („die Sache mit den Delphinen, die der Ulrich Heinz erzählt hat, ist absoluter Quatsch“), ist dagegen etwas skeptischer. „Ich habe mich eigentlich nur für die politischen Diskussionen interessiert.“
Hin- und hergerissen zwischen intellektuellem Vorbehalt und geistiger Faszination ist Hanne, Mitarbeiterin der Grünen in Nordrhein-Westfalen. „Ich sehe ja ein, daß man den Gegensatz von Polaritäten in sich vereinen soll. Aber wenn mir hier so ein aufgeblasener Gockel mit frauenfeindlichem Geschwätz über den Weg läuft, kann ich meinem männlichen Gegenpol wirklich nichts abgewinnen.“
Das wird auch nicht verlangt. Hier kann man, wie anderswo auch, dem Nächsten mit Liebe im Herzen oder mit harscher Verachtung begegnen. Die Atmosphäre von Akzeptanz und die Intensität der Auseinandersetzung, im Negativen wie im Positiven, ist durchaus bemerkenswert. Menschen aus völlig unterschiedlichen Bereichen und Altersgruppen begegnen sich auf ungewohnt nahe Art. Glasnost muß wohl ein spiritueller Begriff sein. Der Kreml-Astrologe Wolfgang Leonhard war vom Ambiente sichtlich angetan: „Das ist schon alles hochinteressant. Sowas habe ich vorher gar nicht gekannt.“ Immerhin hat er seinen Aufenthalt außerplanmäßig um einige Tage verlängert.
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