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Litauer bieten dem Kreml die Stirn

■ Auch unter dem Druck der drohenden Wirtschaftsblockade will sich Litauen dem Diktat Moskaus nicht beugen

Die litauische Regierung ist nach dem am Freitag von Gorbatschow ausgesprochenen und seit Montag verstrichenen Ultimatum, nach dem die baltische Republik ihre Unabhängigkeitserklärung zurücknehmen soll, offenbar fest entschlossen, dem nun drohenden Wirtschaftsembargo Moskaus die Stirn zu bieten. In seinem Brief an die Regierung in Vilnius hatte Gorbatschow sich verärgert gezeigt über die Ausstellung von litauischen Personalausweisen und die Weigerung, weiterhin Soldaten für die Sowjetarmee zu stellen. Litauens Präsident Landsbergis lehnte ein Gespräch mit Gorbatschow bis nach Ostern ab. In der Zwischenzeit hat der Beraterstab von US-Präsident Bush bereits Optionen ausgearbeitet für den Fall, daß Moskau den Lieferstopp von Gas, Öl, Kohle, Maschinen, Baumwolle und chemischen Produkten tatsächlich verhängt. Lettland und Estland schlossen am Wochenende einen Vertrag mit Litauen, nach dem sich die baltischen Staaten im Ernstfall zur Seite stehen wollen. Litauens Rohstoffe reichen bis zum Ende des Monats.

Am Montagabend schickte die litauische Ministerpräsidentin Prunskiene ein Telegramm nach Moskau, in dem erklärt wurde, es gebe „keine Gründe, die eine Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen rechtfertigen würden“. Nach der zunächst signalisierten Unbeugsamkeit ist jetzt in Vilnius Realismus eingekehrt. Die Regierung Litauens appellierte an die litauischen Betriebe, ihre Lieferungen in den Rest der UdSSR nicht zu unterbrechen. Gestern beriet das Parlament über die neue Situation.

Das Schreiben Gorbatschows (s. unten) bietet durchaus Kompromißmöglichkeiten. So wird die Drohung einer Wirtschaftsblockade nicht direkt mit einer Rücknahme des Unabhängigkeitsbeschlusses verknüpft, sondern nur mit der bestimmter Gesetze. Weiter wird unterstrichen, daß die „Festigung der Souveränität“ Litauens durchaus verfassungskonform ist. Die internationale Aufregung der Ostertage scheint sich denn auch zu legen.

Es scheint jetzt eher, daß Gorbatschow eine zügigere Verständigung über die Zukunft der Sowjetwirtschaft erreichen will. Denn im Rahmen der angekündigten Wirtschaftsreformen werden Weltmarktpreise sowieso innerhalb der Union eingeführt. Gorbatschow will die litauische Unabhängigkeitsforderung in ein Drängen auf marktwirtschaftliche Verhältnisse umfunktionieren. Dabei nimmt er in Kauf, daß sich Litauen für einige Zeit wirtschaftlich selbständig macht und damit dem Rest der Union den Kapitalismus vorexerziert.

D.J.

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