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Neuhaus probt den Austritt aus der DDR

Eine kleine Gemeinde an der Elbe will dahin, wo sie schon immer hingehört hat: nach Niedersachsen / Mit Mecklenburg haben die Neuhäuser nichts im Sinn, weil die nix für das Dorf getan hätten / „Wir wollen wieder zu Lüneburg gehören“  ■  Aus Neuhaus K.Hillenbrandt

In Lübtheen hängt die blau-gelb-rote Flagge Mecklenburgs von manchen Häusern. In Quassel und Langenheide, in Pritzier und der Kreisstadt Hagenow, überall Blau-Gelb-Rot. Die Mecklenburger wollen wieder Mecklenburger werden, und das zeigen sie überdeutlich.

Aber in Neuhaus, in Höhe des Landkreises Lüchow-Dannenberg, fünf Kilometer von der deutsch-deutschen Grenze entfernt, ist alles ganz anders. Dort gibt es keine blau-gelb-roten Fahnen. Schon am größten Hotel der Gemeinde, „Hannover“ genannt und wegen Renovierung geschlossen, ist die Orientierung nach Westen unübersehbar. Rund um den baumbestandenen Dorfplatz stehen behäbige alte Bauernhäuser aus Ziegelstein, und die Anschlagtafel vermerkt Volksfeste auf der anderen Seite der Elbe. Von der roten Fassade des Krankenhauses, im Jahr 1820 als Amtsgericht erbaut, hängt eine schlappe Deutschlandflagge. In der Mitte, eingeschlossen von Schwarz-Rot-Gold, prangt das niedersächsische Welffen-Pferd.

Die 2.200 Neuhäuser am westlichen Ende der DDR wollen keine Mecklenburger sein. Anfang des Jahres gab es in Neuhaus eine Demonstration - nicht gegen die Stasi, sondern für Niedersachsen. Am 14.Februar schrieb Bürgermeister Rembert Rump einen Brief an Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht: „Die Menschen im ehemaligen Amt Neuhaus, jetzt acht selbständige Gemeinden, wünschen sich mehrheitlich im Zuge des Zusammenwachsens beider Staaten zu einem einheitlichen Deutschland die schrittweise Wiederherstellung ehemaliger Ländergrenzen und somit die Angliederung an das Land Niedersachsen.“

Die Neuhäuser hatten 1945 das Pech, daß ihr Marktflecken samt Umgebung zwar zu Hannover zählte, aber auf der falschen Seite der Elbe lag. Die Alliierten, die fast überall sonst die Zonengrenzen entlang der alten Länder beließen, machten in ihrem Dorf eine Ausnahme, schon aus verkehrstechnischen Gründen. Schließlich wäre es augenfällig umständlich gewesen, nur mit der Fähre den Rest der Westzone erreichen zu können. Also wurde Neuhaus samt Umgebung der sowjetischen Zone zugeschlagen und landete in der DDR. Während im Rest des Kreises Lüneburg westliche Care-Pakete, D-Mark und Bundeskanzler Adenauer einzogen, wurde die Gemeinde Neuhaus Mecklenburg und später dem Landkreis Hagenow, Bezirk Schwerin, zugeschlagen.

„Grenzbegradigung nennt man so was wohl“, sagt Franz Denker und rümpft die Nase. Der Dorfschmied muß schreien, weil sein Sohn nebenan mit Schweißarbeiten beschäftigt ist: „Ja, natürlich wollen wir wieder zum Kreis Lüneburg gehören!“ Er erinnert sich genau: „Jeden ersten Mittwoch im Monat war Ferkelmarkt hier. Und dann der Herbstmarkt. Das Gericht und das Gefängnis waren hier. Das ist dann nachher alles aufgelöst worden.“ Der Ferkelmarkt ist Geschichte, das Gericht geschlossen.

Die älteste Straße des Ortes heißt „Lange Reihe“ und entstand um 1600. Im ältesten Haus wohnt die Rentnerin Erna Matthies und betreibt vormittags einen Friseursalon. „Wir sind schon seit eh und je Hannoveraner und möchten nicht zu Mecklenburg“, sagt sie voll inbrünstiger Überzeugung. „Das ist genauso, als ob wir jetzt zu Sachsen gehören würden.“ Ob die Mecklenburger denn anders seien als die Neuhäuser? „Ja“, meint Frau Metthies, „die Mecklenburger sind ein ganz anderer Menschenschlag. Die sind nicht so aufgeschlossen. Wir sagen immer, die Mecklenburger sind wie ihr Wappen: Büffel eben.“ Letzteres will sie aber nicht ganz ernst gemeint wissen.

„Wir haben zu den Mecklenburgern immer gesagt, sie seien Kriegsgewinnler, weil sie das Hannover-Land dazu bekommen haben“, sagt Franz Denker und fügt hinzu, man sei mit den Nachbarn dennoch immer gut ausgekommen. Seine Schmiede ist seit 1742 in Familienbesitz. Da gehörte Neuhaus schon zum Kurfürstentum Hannover.

Bis zum November 1989 lag das ehemalige Hannover-Land am Ende der Welt. Es gab keinen Grenzübergang. „Am Arsch der Welt“ sei man gewesen, schimpfen die Neuhäuser. Die Mecklenburger hätten nichts für ihre Region getan. Vor zwanzig Jahren habe man die Einrichtung einer Kaufhalle, DDR -Synonym für Supermarkt, zum ersten Mal beantragt, berichtet eine Gemeinde-Angestellte. Bis heute fehlt das Einkaufszentrum. „Mecklenburg hat sich gar nicht um uns gekümmert“, sagt Erna Matthies. „Das war mit allem so.“ Heute hängt am Grenzzaun an der Elbe nur noch der Stacheldraht. Das Drahtgeflecht darunter ist verschwunden, von den Elbbewohnern zum Teil selbst abmontiert, und man kann unter dem Stacheldraht spazierengehen. Das Tor, früher nur für die Fahrzeuge der Nationalen Volksarmee zugänglich, steht weit offen. Dahinter fließt träge die Elbe.

Früher kamen nur ein paar Westler im kleinen Grenzverkehr nach Neuhaus. Heute sind die Gaststätten voll und die Metzgereien manchmal ausverkauft. „Unverschämt - eine Frau aus dem Westen hat neulich 80 Rouladen auf einmal gekauft“, erregt sich Astrid Kilian, die in der Gemeindeverwaltung arbeitet. Und sie weiß noch mehr Geschichten dieser Art: „Wir wollten letztens in Boizenburg essen, hatten reserviert. Und dann sagte die Gaststättenleiterin, es sei kein Platz da. Die Bürger aus der Bundesrepublik wurden aber reingelassen. Man kommt sich hier vor wie ein Bürger zweiter Klasse.“ Für den Anschluß nach Niedersachsen ist sie trotzdem, und das nicht nur aus Gründen der Geburt: „Ich bin im ehemaligen Knast vom Amtsgericht geboren, das ist heute die gynäkologische Abteilung des Krankenhauses. Meine Eltern sagten immer, ich sei 'ne echte Hannoveranerin.“

Die Elbe trennt die Neuhäuser nicht vom Landkreis Lüneburg, sie verbindet. „Es war immer umständlich, nach Mecklenburg reinzufahren“, erinnert sich Erna Matties. „Hier ging das früher mit der Fähre über die Elbe, und schon waren wir in Bleckede und auch in Lüneburg.“ „Die ganzen Verkehrsverbindungen gingen nach Hannover“, bestätigt auch Franz Denker. Seit Ostern 1990 schwimmt die Fähre von Darchau/DDR nach Neu-Darchau/BRD wieder. Die Kreisstadt Hagenow ist jetzt scheinbar weit weg und Lüneburg ganz nah. Die Bürger von Neuhaus wissen jedoch, daß es mit Niedersachsen nicht so schnell gehen kann. „Das kann erst kommen, wenn die Einheit da ist“, sagt Erna Matthies. „Wir haben ja keine Sonderrechte.“

Am 18. März erhielt die CDU in Neuhaus 546 Stimmen. Die SPD kam auf 437, die PDS auf 143 und die Liberalen auf 84. Und wenn sich die Neuhäuser auch in ihrem Anschluß-Willen an Hannover völlig einig sind, so endet diese Solidarität doch bei den anstehenden Kommunalwahlen. Bürgermeister Rump will Bürgermeister bleiben und kandidiert als Unabhängiger. Aber auch Dr. Rintele (CDU), der eine Unterschriftensammlung für Hannover organisiert hat, nimmt an der Wahl teil. Und Rump hat einen Makel, der mindestens so viel wiegt wie seine ehemalige SED-Mitgliedschaft: Er ist kein Hannoveraner. Um das wettzumachen, sorgt der Exkommunist Rump nun dafür, daß das vor Jahren eines Nachts im Sturm abgebrochene Germania -Denkmal restauriert und auf dem alten Sockel beim Gemeindehaus wieder aufgestellt wird. Er hat an Albrecht geschrieben und im Radio gesprochen. „Aber“, meint Erna Matthies, „schöner wär's schon, wenn irgend jemand aus dem Ort Bürgermeister ist.“

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