Flüchtlingsleben aus Bahnhofsschließfächern

■ Flüchtlinge aus Rumänien leben auf dem Bahnhof Lichtenberg in Ost-Berlin / Behörden sind gegenüber dem bisher unbekannten Flüchtlingsproblem hilflos / Soziale Atmosphäre ist gespannt / Rechte wollen die „Asseln aufmischen“

Der Schichtleiter vom Bahnhof Lichtenberg dreht seine nächtliche Runde. „Heute geht's ja“, stellt er fest und meint damit obdachlose Rumänen, die seit Wochen auf dem Bahnhof übernachten. Vor einem Monat nächtigten in der Schalterhalle noch Flüchtlingsfamilien auf den kalten Fliesen. Inzwischen, seit die Nationalitätenkonflikte in Rumänien vorläufig zur Ruhe gekommen sind, hat auch dieser Zustrom etwas nachgelassen. Doch in den Winkeln, Ecken und Rändern der Halle liegen nach wie vor ganze Familien und versuchen in der unwirtlichen Bahnhofsatmosphäre zu schlafen. Menschliches Strandgut, das bei dem Versuch, in den Westen zu gelangen, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen, immer nur wieder abgeschoben wird.

Während sich deutschstämmige Rumänen wenigstens noch verständlich machen können und somit für sie Hilfe möglich wird, haben Ungarrumänen weniger Chancen, ein Einreisevisum zu erhalten. Die ebenfalls zahlreichen Sinti und Roma sind gänzlich chancenlos - der Bahnhof wird zu ihrem Daueraufenthaltsort. Bekannt ist das Problem dem Ostberliner Magistrat mindesten seit Dezember letzten Jahres und schwelt seitdem in aller Stille vor sich hin. Als die Situation vor zirka vier Wochen eskalierte und immer mehr Menschen Zuflucht auf dem Bahnhof suchten, alarmierte die Reichsbahn und das Bezirksamt des DRK erneut den Magistrat und das im März gegründete Amt für Ausländerangelegenheiten. In diesem neu geschaffenen Amt mühen sich ganze fünf Mitarbeiter, die sich bereits mit Problemen anderer Ausländer in der DDR befassen müssen, schon seit geraumer Zeit um eine langfristige Lösung für obdachlose Ausländer.

In einem eigenen Haus, so war es dem Magistrat vorgeschlagen worden, sollten diese Menschen befristet und unter menschenwürdigen Bedingungen untergebracht werden. Doch dazu müßte der seine Zustimmung geben und vor allem das Geld dafür herausrücken. Aber dazu konnte sich bisher weder der alte noch der neue OB Hartenhauer durchringen. Es fehlen gesetzliche Grundlagen, und so können es sich die Nachlaßverwalter des alten Systems erlauben, das Problem vor sich herzuschieben und halbherzige Entscheidungen zu treffen. Für lediglich 47 Personen wurden im Zentralen Aufnahmelager des Inneren Wohnplätze bereitgestellt. Doch das Zentrale Aufnahmelager, zwar kostenlos, ist nur für Menschen gedacht, die die Staatsbürgerschaft der DDR annehmen wollen, und dazu sind von den Rumänen nur die wenigsten bereit. Zudem gibt es keine Dolmetscher, die als Mittler zwischen Beamten und Ausländern fungieren können.

Rumänen, die nicht DDR-Bürger werden wollen, müssen deshalb nach zwei bis drei Nächten ins Arbeiterwohnheim wechseln. Dort stehen kurzfristig allerdings nur 30 Plätze, und das auch nur auf Widerruf, zur Verfügung. Danach landen viele der Betroffenen doch wieder auf dem Bahnhof. Sie finden sich jeden Abend zwischen 18.00 und 19.00 Uhr ein und führen ihr Leben aus den Schließfächern fort. Die meisten sitzen apathisch an die Wände gelehnt, und nur wenige Glückliche haben einen Platz auf einer Wartebank gefunden. Frauen, die etwas von ihrer spärlichen Habe brauchen, kramen in den Schließfächern, während ein Teil der Männer in einem der Winkel sitzen und trinken und spielen. Das Leben: oder besser Hausen auf dem Bahnhof demontiert Stück für Stück die Familienbeziehungen. Laute Streitereien zwischen Ehepartnern und in der letzten Woche sogar eine blutige Messerstecherei machen den Bahnhof zur offenen Bühne menschlicher Tragödien.

Hinzu kommen die unzureichenden sanitären Verhältnisse und der täglich anfallende Müll. Die Reinigungskräfte des Bahnhofs, die ohnehin mit Personalmangel zu kämpfen haben, sehen sich zunehmend überfordert, während sich Reisende permanent über die unhaltbaren hygienischen Zustände und die fehlenden Schließfächer aufregen. Doch der Bahnhof ist ein öffentliches Gebäude, niemandem kann der Aufenthalt hier untersagt werden. Die Transportpolizei patrouilliert alle zwei Stunden und muß sich zusätzlich mit rechtsradikalen Jugendlichen auseinandersetzen, die zum Bahnhof kommen, um die „Asseln aufzumischen“.

Die Schwestern der DRK-Bahnhofsstation können nur wenig zur Linderung der Probleme beitragen. Lebensmittel, die sie verteilen könnten, stehen nicht zur Verfügung. In den DRK -Räumen können die Frauen ihre Kinder wickeln, und als bei einer hochschwangeren Frau die Wehen einsetzten, riefen die Schwestern den Notdienst. Daß die Frau standhaft den Rettungswagen nur unter der Bedingung betreten wollte, wenn dieser nach West-Berlin fährt, ist Zeichen für die Verzweiflung, in der sich viele der Betroffenen befinden. Abgeschoben werden die Rumänen bis jetzt noch nicht, doch allmählich macht sich bei den Behörden die Erkenntnis breit, daß man sich von nun an auch in der DDR mit Flüchtlingsproblemen auseinanderzusetzen hat.

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