: „Wir wollen die Rehabilitierung“
Gespräch mit einer ehemaligen Inhaftierten im NKWD-Lager Fürstenwalde, zu Haftbedingungen und heutigen Forderungen ■ I N T E R V I E W
Waltraud Marschhausen ist Jahrgang 1925, Rentnerin und lebt in Fürstenwalde, wo von 1945 bis 1947 das Lager Ketschendorf bestand. Wegen einer leitenden Position beim faschistischen Bund Deutscher Mädchen (BDM) wurde sie von 1945 bis 1947 in Ketschendorf und danach in den Lagern Jamlitz und Mühlberg interniert. 1948 wurde sie entlassen. Sie arbeitete als Verkaufsstellenleiterin am Aufbau der Textilabteilung der HO im Bezirk Frankfurt/Oder mit.
Nach der Wende gründete Waltraud Marschhausen zusammen mit anderen Überlebenden des stalinistischen Lagers eine Arbeitsgruppe, die sich die Aufgabe gestellt hat, Verbindungen zu ehemaligen Häftlingen wiederherzustellen und - soweit möglich - das Schicksal der Verschwundenen aufzuklären.
taz: Wie ist es für Sie, nach so langer Zeit über das zu sprechen, was Sie erlebt haben?
Waltraud Marschhausen: Zunächst einmal, wir wollen alle ich spreche von uns allen, weil ich Kontaktperson für viele bin - wir wollen nichts weiter als das, was gewesen ist, ein Mal auflisten, wie es wirklich war. Wir durften ja 45 Jahre nicht darüber sprechen. Das haben wir alles für uns alleine getragen. Und das war sehr, sehr schwer. Es ist für alle eine große Befreiung.
Sind Sie damals denunziert worden?
Ja. Ich sage ganz offen: Ich war BDM-Führerin. Meine Vertretung hat mich denunziert. Ich weiß nicht, ob sie gewußt hat, was das für Konsequenzen hat.
Wie alt waren Sie?
Ich war 20 Jahre alt, Jahrgang 1925. Aber was haben wir gemacht? Wir haben gesungen, Sport getrieben, Volkstänze gemacht, Osterwasser geholt. Es war ein unbeschwertes Leben, wir haben das nicht so mitgekriegt, was ringsherum war.
Wann sind Sie verhaftet worden?
Am 20. Juni 1945 kam ein Russe zu uns. Er sprach gut Deutsch, weil er eine österreichische Mutter hatte. Er warnte mich und forderte mich auf zu verschwinden. Aber ich wußte nicht warum ich verschwinden sollte, ich hatte keinem was getan. Acht Tage später haben sie mich geholt. Die Angehörigen wurden in der Regel gar nicht benachrichtigt. Wenn man Glück hatte, gelangte ein Kassiber nach draußen. Die meisten haben geglaubt, die sind tot. Bevor wir ins Lager kamen, wurden wir in dem GPU-Keller (NKWD) von den russischen Behörden nachts verhört. Und dann wurden wir in die Lager eingeliefert, ohne daß sie uns schuldig gesprochen hätten. Unser Frauenlager war übrigens international. Es waren Engländerinnen darin, Französinnen und auch russische Frauen. Die saßen zum Teil ein, weil sie deutsche Männer gehabt hatten.
Haben Sie von der Zeit im Lager gesundheitlichen Schaden erlitten?
Ja, Rheuma. Wir haben ja alle auf dem Fußboden geschlafen. Gesund ist keine herausgekommen. Die Behandlung von uns Frauen war besser als die der Jugendlichen und Männer. Da war die Sterblichkeit viel höher als bei uns.
Wie war Ihr Verhältnis zu den Russen?
Ich könnte überhaupt kein böses Wort über die Russen sagen. Ich habe gute Erfahrungen mit ihnen gemacht. Die jungen Menschen, die uns bewacht haben, haben so manches Risiko auf sich genommen. Wir haben Nachrichten an unsere Angehörigen rausgeschmuggelt. Sie haben es gesehen und sind nicht eingeschritten. Dabei mußten sie vorsichtig sein, denn überall standen die Wachtürme. Ich habe mich mal gemeldet zum Kartoffelsammeln, weil ich wußte, daß da meine Mutter vorbeikam. Meine Mutter kam dann erst, als wir schon zurück ins Lager mußten. Da fing ich natürlich an zu weinen. Der russische Soldat kam, faßte mich am Arm und fragte - er konnte etwas Deutsch - was los sei. Schließlich hat er es so arrangiert, daß meine Mutter und ich ganz langsam aneinander vorbeilaufen und ein paar Worte miteinander sprechen konnten.
Ich hatte noch andere Erlebnisse dieser Art. Da kann ich doch keinen Haß auf die Russen oder das russische Volk haben. Im Gegenteil. Wer uns denunziert hat, das waren unsere eigenen Landsleute. Wir haben aber auch keinen Haß auf die, die uns reingebracht haben, denn wir wissen nicht, ob ihnen klar war, was sie da machen.
Wie war das Verhältnis der Häftlinge untereinander?
Von einigen Ausnahmen abgesehen, stand jeder für jeden ein. Von der russischen Lagerleitung haben wir kaum etwas bemerkt. Unsere eigenen Leute haben für Ordnung gesorgt. Da waren ehemalige Polizisten, die noch in ihren Uniformen, Breeches-Hosen und Stiefeln, rumliefen und für Ordnung sorgten. Die kriegten eine bessere Verpflegung.
Wie haben Sie die Tage verbracht?
Wir brauchten ja nichts tun. Es wurde nicht gearbeitet. Wir haben fast den ganzen Tag damit verbracht, uns gegenseitig zu entlausen. Anschließend waren die Wanzen dran.
Wie haben Sie geschlafen?
Wir Frauen auf Holzfußböden. Die Männer auf Betonfußböden. Nachher haben wir dreistöckige Pritschen gekriegt. Erst hatten wir jede eine. Dann wurden wir aber immer mehr und dann haben wir zu zweit darin gelegen. In den Brettern waren unwahrscheinlich viele Wanzen (lacht). Und meine Nachbarin hatte links so viele Flecken und ich rechts. Ein Arzt sagte uns, wir hätten Ernährungsstörungen. Aber das waren keine Ernährungsstörungen, das waren die Wanzen. Da gaben die Männer uns Fahrradspeichen - wie sie daran gekommen sind, weiß ich nicht - über den Zaun und dann haben wir in den Löchern gebohrt und die tot gemacht, damit die uns nicht fressen. Wir waren den ganzen Tag damit beschäftigt.
Welche Ziele verfolgt Ihre Gruppe?
Wir möchten die Rehabilitierung und kämpfen darum, daß uns die Jahre des Lageraufenthalts auf die Rente angerechnet werden. Natürlich werden einige, die große gesundheitliche Schäden davongetragen haben, auch auf Wiedergutmachung plädieren. Und wenn unsere Regierung die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen schafft, werden wir Entschädigung fordern. Vor allem, wo wir jetzt gesehen haben, wieviele kaputte Leute diese Lager hervorgebracht haben. Leute, die sich beruflich gar nicht entwickeln konnten, weil sie immer nur kurzzeitig arbeiten konnten.
Wollen Sie, daß die Grabungen bei den ehemaligen Lagern weitergehen?
Der Leiter des Kreismuseums in unserem Ort deutete an, daß um Ketschendorf eventuell auch noch Grabungen stattfinden werden. Wir sind dagegen. Dort stehen ja heute Häuser, Gärten und Garagen. Für die Menschen, die dort leben, ist das nicht zumutbar. Sie sollen nicht denken, daß sie auf einem Friedhof wohnen.
Interview: Josefa Wittenberg
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