: Der Plattenwagen sammelte täglich 20 Tote auf
Fürstenwalde zählte zu den schlimmsten NKWD-Lagern / Nazis avancierten unter den Stalinisten zur „Deutschen Lagerleitung“ ■ Von Josefa Wittenberg
Berlin (taz) - Unweit der Autobahn Berlin -Frankfurt/Oder liegt bei Fürstenwalde-Süd eine blaßgelbe einstöckige Siedlung aus den 30er Jahren. Damals hieß sie Deka-Siedlung, heute wird sie Reifenwerkersiedlung genannt.
In den Jahren 1945-47 diente sie als Speziallager Nr.5 des sowjetischen Geheimdienstes NKWD. In den ersten Maitagen 1945, unmittelbar nach der Kapitulation, räumte die sowjetische Geheimpolizei das Gelände und baute es es zu einem Internierungslager für ehemalige Nationalsozialisten um. Die neuen InsassInnen trugen den Hausrat der alten Bewohner komplett aus den Gebäuden heraus und wurden anschließend in die leeren Räume eingepfercht - auf zwanzig Quadratmeter kamen zwanzig Leute.
Zu den Häftlingen gehörten 12jährige vom „Jungvolk“ oder Mitglieder des Bund Deutscher Mädchen ebenso wie Sozialdemokraten, ehemalige Strafgefangene des Hitler -Regimes sowie auch aufrechte Nazis. In den Verhören wurden kleine Hitlerjungen immer wieder gefragt: „Welche Aufträge hattet ihr von Schirach (dem Reichsjugendführer), um gegen die sowjetische Armee zu kämpfen?“
Zur Aufrechterhaltung der Ordnung ließ sich der NKWD etwas besonders Perfides einfallen: Ehemals nationalsozialistische Polizeioffiziere avancierten zur „Deutschen Lagerleitung“, die die Mithäftlinge schikanierten und dafür zusätzliche Essensrationen einheimsten. Sie waren der sowjetischen Lagerleitung rechenschaftspflichtig.
Das Lagers Ketschendorf war nach Meinung vieler Zeitzeugen eines der schlimmsten. Die Häftlinge waren in „Züge“ zu je 50 Personen eingeteilt. In der Gruppe der 12-16jährigen Jungen gab es acht „Züge“, also circa 400 Kinder. In der Gruppe der 16-18jährigen gab es 22 „Züge“. Im Jahre 1946 zählte das gesamte Lager etwa 6.200 Insassen. Ausländische Männer waren von deutschen getrennt.
Im Frauenlager lebten deutsche mit englischen, französischen und russischen Frauen zusammen, die der Kollaboration beschuldigt wurden. Die Ernährung bestand aus 200 Gramm Brot und einer Tasse dünner Grützsuppe täglich. Aufgrund des Hungers, der Kälte und der unhygienischen Zustände starben die zahlreiche Häftlinge an Durchfallkrankheiten und Lungenentzündungen. Täglich fuhr ein Plattenwagen durch das Lager, der durchschnittlich 20 Tote aufsammelte und in den sogenannten Leichenbunker transportierte. Von dort wurden sie in ein Kiefernwäldchen gebracht und von Bestattungskommandos verscharrt.
Wahrscheinlich wurde ein Teil der Toten später auf einen Kriegsgefangenenfriedhof bei Halbe, südöstlich von Berlin, umgebettet. Insgesamt wird die Zahl der Toten des Lagers Ketschendorf auf 5.300 geschätzt.
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