piwik no script img

Eine brutale Ersatzfamilie

■ Porträt eines jungen Ostlers, der unter die Zeitschriftendrücker fiel / Geködert werden viele der aus dem Osten Kommenden mit Frühstück und Wohnung

Moabit. Eine Männerrunde in einer Kneipe irgendwo in Wilmersdorf. Etwa sechzig sind sie an diesem Morgen, und sie frühstücken zusammen. Nicht der Skat führt sie zueinander, es ist der „Verlag“. Diese Männer sind Drücker, Teilnehmer des Treppenmarathons in Berliner Mietshäusern. Dort werden sie nach einer halben Stunde genervten Menschen Zeitschriften andrehen, Qualitätsblätter wie die 'Neue Revue‘ oder die 'Fernsehwoche‘. Artig nehmen sie nach dem Frühstückskaffee die druckfrischen Hefte entgegen. In Gruppen besteigen sie Transporter und Pkws, die aufreibende Tour durch die Westberliner Stadtbezirke beginnt.

Einer dieser durchgängig sehr jungen Männer ist Bernd. Seit zwei Monaten ist er dabei. Er war mal Dreher, früher, in der DDR. Hitlers Geburtstag war ihm letztes Jahr ein Grund zum Feiern. Mehr aus Protest, denn ein Nazi ist er nicht. Man traf sich im Jugendklub Elektrokohle in Berlin-Lichtenberg. Das sah die Stasi nicht gern, ein halbes Jahr saß er dann im Knast. Als er rauskam, ging die Mauer auf.

So kam er am 11. November nach Marienfelde. Die übliche Spirale zeigte sich zunächst noch freundlich. Zwar nächtigte er in Turnhallen und Kasernen, doch den Westen hatte er sich nicht zu golden ausgemalt. Das Arbeitsamt vermittelte einige Angebote, leider war er nicht der einzige Bewerber. Er wollte nicht rumsitzen und sah sich auf eigene Faust um. Er bewarb sich erfolglos bei den Westberliner Großbetrieben. Dann kam er über eine Anzeige in der 'BZ‘ zu einer „Marketing GmbH“, die schnelles Geld versprach und schwarze Arbeit bot. Man besorgte ihm auch ein Zimmer. Zu viert wohnen sie in einer kleinen Altbauwohnung in Moabit, vis a vis vom Knast. Nun sitzt er fest. Gibt er den Job auf, dann verliert er auch die Wohnung.

Er ist ein ruhiger, eher schüchterner Mensch. Einer, der hüben wie drüben keinen Platz für sich findet. Was für ihn im Allmachtsstaat sein rechtskonservativer Protest war, wird in der Marktwirtschaft der Ausbeuter-„Verlag“: Der Strohhalm, Gemeinschaft, Identität, Wohnung, Frühstück fast wie eine richtige Familie. Das wissen auch die „Marketing„-Leute. Daraus ein Geschäft zu machen ist nicht verboten. Sagt jedenfalls das Gesetzbuch.

Bernd trinkt zuviel. Er hofft auf eine Umschulung, höchstens ein Jahr will er diesen Job machen. Das Arbeitsamt hat er leider länger schon nicht mehr gesehen. Er verbringt ja seine Tage in Treppenhäusern. Für einen Hungerlohn.

Joachim Schurig

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen