: Pathos und Realpolitik
■ Zur Regierungserklärung von de Maiziere
Diese Regierungserklärung wird zitiert werden. Im Zweifelsfall wird de Maziere mit de Maziere widerlegt. Eine Regierungserklärung zwischen revolutionären Nachspiel und bundesrepublikanischen Vorspiel, pathetisch und zweideutig zugleich. Wovon der politische Philosoph redet, schweigt der praktische Politiker und umgekehrt. Ganz Don Quichote der demokratischen Revolution stellt er seine Regierung in die revolutionäre Tradition der Deutschen: von dem Bauernkrieg angefangen über 1848 bis hin zur Novemberrevolution. Diese Revolution soll nicht wieder in Resignation enden, beschwört er seinen Auftrag. Er warnt vor „antisozialistischen Opportunismus“, versucht die Idee der sozialen Gerechtigkeit vom Realsozialismus zu befreien. Er benennt die DDR-Identität als „Mitgift“ im Einigungsprozeß. Viele gute Sätze. Sie gehen durchaus über die Koalitionsvereinbarung hinaus.
Auf der anderen Seite stellt die Regierungserklärung einen Katalog von Gesetzgebungsvorhaben vor, wie er noch nie einem Parlament zugemutet wurde. Umbau und rechtstaatliche Rekonstruktion einer Gesellschaft praktisch in Jahresfrist. Aber das Epochenprogramm für diese immerhin noch entstehende Legislative ist in sich zweideutig: es schwankt zwischen blanker Unterwerfung unter die Gesetzlichkeit der BRD und einem eigenständigen Umbau der DDR-Gesellschaft. Die Alternative zwischen Verfassungsdiskussion und Anschluß schimmert durch. Aber de Maziere erwähnt nicht einmal die Verfassung - ein Verfassungsgericht fordert er gleichwohl.
De Maziere ist aber nicht nur der Philosoph der Großen Koalition, er ist schließlich auch der Verhandlungsführer deutsch-deutscher Regierungsverhandlungen. Allein, das Wort Staatsvertrag fällt nicht. Dem geneigten Zuhörer bleibt überlassen, welche seiner schönen Sätze auch Verhandlungspositionen sind. Sancho Pansa deutsch-deutscher Realpolitik. Bonn bleibt überlassen, wie ernst man diese Regierung nehmen will und dieser Regierung bleibt überlassen, wie ernst sie sich nehmen will. Die Regierung will sich bei den Staatsvertragsverhandlungen nicht in die Karten schauen lassen, auch nicht durchs Parlament. Da ist wenigstens Konsens mit Bonn, was auch immer sonst der „große historische Prozeß unserer Selbstbefreiung (de Maziere)“ an Überlieferungswürdigem beinhaltet.
Klaus Hartung
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