piwik no script img

Litauische Dialektik

■ Zum Unabhängigkeitsprozeß des baltischen Staates

Der litauische Präsident Landsbergis hat für einen Musiker erstaunliche Fertigkeiten im dialektischen Denken gezeigt. Er interpretierte das Öl- und Erdgasembargo der Sowjetunion als Anerkennung der Unabhängigkeit Litauens. Aber wir wissen es seit der Antike: Die Verstoßung des Kindes hat noch nicht das Ende der Gewalt des Pater familias zur Folge. Und Litauen ist nicht in der Lage, kurzfristig neue Energiequellen in Anspruch zu nehmen. Die sowjetische Regierung hofft nun auf den Sieg der „einsichtigen, realistischen Kräfte“ in Vilnius. Diese Hoffnung teilen im Westen nicht wenige, denen die Haltung von Landsbergis als ebenso halsstarrig-formalistisch wie für das Überleben der Perestroika gefährlich erscheint. Warum können die Litauer nicht den Weg beschreiten, den das soeben ratifizierte Austrittsgesetz ihnen weist? Von einem georgischen Volksdeputierten wurde dieses Gesetz - wenig orginell, aber zutreffend - als Austrittsverhinderungsgesetz gekennzeichnet. Bis die Unabhängigkeit erreicht ist, muß im Abstand von fünf Jahren - zweimal mit 2/3-Mehrheit für den Austritt votiert werden; Gebiete in denen diese Mehrheit nicht erreicht wurde, können abgetrennt werden. Sämtliche eigentums- und vermögensrechtlichen Fragen müssen in diesen fünf Jahren einvernehmlich geklärt werden. Und schließlich muß der Oberste Sowjet dem Austrittsbegehren auch noch zustimmen. Man könnte einwenden, daß auch historisch gewachsene Nationalstaaten sich mit der Sezessionsforderung eines ihrer Teile schwertun würden. Dieses Argument setzt sich jedoch über die Tatsache hinweg, daß die Angliederung der baltischen Staaten wie auch Georgiens oder Armeniens an die Sowjetunion nicht irgendwann einmal erfolgte, sondern nach 1917 - und daß die Erfahrung des mit der Annexion verbundenen Schreckens heute noch das Bewußtsein der unterworfenen Völker prägt. Sie fühlen sich kolonialisiert, selbst wenn ihre Länder keine russischen Kolonien sind.

Im Gegensatz zu anderen Republiken der Sowjetunion ist der Unabhängigkeitskampf der baltischen Staaten bis jetzt friedlich und demokratisch in seinen Mitteln. Von Vilnius, Riga und Tallinn sind starke Impulse für die Perestroika Gorbatschows ausgegangen. Ein Abgleiten der baltischen Staaten in den Nationalismus - als Folge einer erpresserischen Politik - hätte auch für die demokratischen Kräfte in der Sowjetunion fatale Konsequenzen. An diesen Kräften, die immerhin die Parlamente von Moskau und Leningrad beherrschen, liegt es nun, ob eine Formel gefunden wird, die die Unabhängigkeitserklärung Litauens nicht aufhebt, bei ihrer Verwirklichung aber die „legitimen“ Interessen der Sowjetunion berücksichtigt.

Christian Semler

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen