Vom Ende eines deutschen Gefängnisses

Die ehemalige Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Potsdam wurde zum Kommmunikationszentrum für alternative Gruppen und politische Parteien umfunktioniert / Ein Gebäudekomplex mit einer langen gruseligen Geschichte: Hitlers Gestapo saß hier, Stalins Geheimdienst NKWD und zuletzt die Potsdamer Stasi  ■  Von Günther Grosser

Mitten in der Potsdamer Altstadt klafft ein tiefes Loch im Straßenbelag. Ortskundige Trabantfahrer umkurven die tückische Falle, während Mercedeslenker aus dem Westen krachend hindurchpreschen - die Federn quietschen, die Lebensdauer des Auspuffs verringert sich abrupt um die Hälfte. Jahrelang wurde hier nichts mehr ausgebessert, und das lag ausnahmsweise nicht an der ökonomischen Misere, sondern an der ungastlichen Nachbarschaft. Dreißig Meter weiter, im Sackgassenteil der Otto-Nuschke-Straße, hatte das Ministerium für Staatssicherheit eines seiner berüchtigten „Objekte“, und die Stasi hielt wenig von unaufgefordertem Besuch: Zufahrt nur für Anlieger mit Sondergenehmigung.

Die kontrollierte allerdings keiner mehr, als sich Ende Dezember letzten Jahres, im Anschluß an die Besetzung der Potsdamer Stasizentrale in der Hegelallee, eine Handvoll Mitglieder des Bürgerkomitees Einlaß in das „Objekt“ verschaffte. Deren Verblüffung hätte nicht größer sein können. Was sie hinter den barocken Fassaden vorfanden, war eine perfekt abgesicherte, schwer bewehrte und weitläufige Knastanlage: die Untersuchungshaftanstalt der Stasi Potsdam.

Gitterkäfige im Hof

Wohin führen die Treppen? Wo sind die Ausgänge? Was verbirgt sich hinter der nächsten Ecke? Vorbei an den offenen Zellen mit den hochgeklappten Betten, den Kloschüsseln und den vergitterten Fensterchen, gerate ich in den Zahnarztraum, der so anheimelnd wirkt wie ein Schloßverlies: Ein mächtiger Bohrer ragt an einem meterlangen Stahlarm aus dem Boden, hinter dem Schreibtisch in der Ecke ein einzelner Stuhl, sonst nichts. Der Geruch von Reinigungsmitteln liegt in der Luft, alles ist peinlich sauber und wirkt frisch gestrichen. Ich suche den Hofzugang und lande im Bügelraum - stapelweise fein säuberlich gefaltete Schlafanzüge, Unterwäsche, Drillichanzüge und so weiter. Beim nächsten Versuch gerate ich in den Fotoraum. Hier wurden die „Neuzugänge“ zum Ablichten auf einer archaischen Vorrichtung festgeschnallt. Zack! Rechtes Profil! Zack! Linkes Profil! Zack! Frontansicht! Zack! - wer weiß, wofür man's brauchen kann Rückansicht. In diesem langen Zimmerschlauch mit abgeklebtem Fenster herrscht noch die Mechanik des 19. Jahrhunderts, und ich wundere mich, daß sich das Licht ohne weiteres anknipsen läßt. Als ich das Erdgeschoß wiederfinde, entdecke ich endlich auch den Hofzugang. Mitten im quadratischen Innenhof befinden sich vier Käfige - Betonverliese, die nicht überdacht, sondern mit Gittern abgedeckt sind. Quer darüber verläuft ein Gitterrost, auf dem die Wärter spazierengehen konnten. Von unten sieht man nichts als den gesiebten Himmel.

Der Stasikomplex Otto-Nuschke-Straße 53-55 umfaßt drei barocke Wohnhäuser zur Straße hin und die Gefängnisumbauung des Innenhofes mit 61 U-Haftzellen, darunter auch einigen Großzellen, so daß die Anlage auf 110 Häftlinge ausgelegt ist. Dazu kommen die Versorgungsräumlichkeiten mit Großküche, Krankenzimmer, Kleiderkammer, Bügelraum, Werkstätten und einem Zellentrakt für Strafhäftlinge, die in der Knastversorgung zu arbeiten hatten. In den vorderen Gebäuden befand sich die Verwaltung mit den Büros, Verhörräumen, technischen Anlagen und einem großen Sitzungssaal. „Die Stasi hat sich im Laufe der Jahre durch drei Gebäude hindurchgefressen“, erzählt Thomas Wernicke, der sich in seiner Doppelfunktion als Museologe am Potsdam -Museum und Mitglied der Arbeitsgruppe Geschichte im Neuen Forum mit der Geschichte und der künftigen Nutzung des Komplexes befaßt.

Eine gruselige Geschichte

Die Geschichte des Hauses Nr.54 beginnt, wie so vieles in Potsdam, beim ersten Friedrich Wilhelm, dem Soldatenkönig, der im Zuge einer großangelegten Stadterweiterung um 1730 in der späteren Otto-Nuschke-Straße ein großes Fünfachsenhaus im holländischen Stil errichten ließ. 1738 schenkte er es der Stadt, die es für 100 Taler im Monat an den jeweiligen Kommandanten des Leibregiments vermietete. Jahre später, am 20. März 1809, tagte dort die erste frei gewählte Stadtverordnetenversammlung Potsdams. 1817 zog das Stadtgericht ein. Womit die Geschichte der Zellen und Gitter ihren Anfang nimmt, denn die Richter ließen im Hof ein kleines Gefängnis errichten, ein paar Zellen, die dann 1906 zur heutigen Anlage ausgebaut wurden.

In den dreißiger Jahren verhandelte hier das nationalsozialistische „Erbgesundheits„-Gericht über Zwangssterilisierungen und „Rassenhygiene“. Als erste der drei staatlichen Terrororganisationen, die sich in den nächsten fünfzig Jahren Klinke und Schlüssel in die Hand geben sollten, übernahm während des Krieges die Gestapo die Haftanstalt.

Nach Hitlers Sturz und im Vorfeld der Potsdamer Konferenz zog Stalins Geheimpolizei NKWD in das Gebäude und blieb zehn Jahre. „Eine ganz bittere Zeit“, sagt Thomas Wernicke, „über die man so gut wie nichts weiß. Die Akten sind verschwunden.“ 1955 übernahm das fünf Jahre zuvor gegründete Ministerium für Staatssicherheit den Komplex.

Jens Möller, inzwischen Volkskammerabgeordneter der SPD, saß im Jahre 1983 eine Woche lang in der Otto-Nuschke -Straße, „weil wir damals, von der Kirche aus, auf das Waldsterben im Erzgebirge aufmerksam machen wollten, indem wir ein paar verkrüppelte Fichten neben den offiziellen Weihnachtsbaum aufstellten.“ Das reichte der Stasi für eine eingehende Beschäftigung mit den Kirchenleuten: Verhöre, Befragungen, Einzelzelle, Isolation. „Ich hab keinen Menschen zu Gesicht bekommen, während ich hier saß. Das Rotlichtsystem in den Gängen funktionierte perfekt: Wenn eine Zelle aufging, blieben alle anderen zu.“ Jeder „Neuzugang“ wurde verhört, alle Aussagen wurden akribisch aufgezeichnet und archiviert.

In einem kleinen Büro des Vorderhauses sitzt ein Mitarbeiter des Bürgerkomitees zur Aktensicherung zwischen einem Haufen altersschwacher Tonbandgeräte und archiviert das Bandmaterial. „In den meisten Fällen handelt es sich um den Paragraphen 213 - Republikflucht, oder wie es offiziell hieß: 'unerlaubter Grenzübertritt‘. Wir haben zwei Waschkörbe mit Bändern gefunden, zwei Drittel dürften allerdings gelöscht sein.“ Er spielt Ausschnitte aus einem Verhör vor, bei dem ein deutlich eingeschüchterter Mann detailliert erzählt, wie er versucht hat, eine Flugmaschine zu bauen. Die Bänder mit Aussagen politisch Oppositioneller wurden offenbar alle gelöscht. Trotzdem wurden 80 Prozent des Aktenbestandes sichergestellt und dem „Rat der Volkskontrolle“ - einem Gremium, das ähnlich wie die örtlichen Runden Tische mit Vertretern der verschiedenen politischen Gruppierungen besetzt ist - übergeben.

Während das Haus Otto-Nuschke-Straße 55 nun wieder von der Kirche genutzt wird, muß man sich in den beiden anderen Flügeln mit Übergangslösungen zufrieden geben. Der Rat der Stadt wird sich hüten, hier vor den Kommunalwahlen im Mai eine bindende Lösung herbeizuführen: Harte politische Auseinandersetzungen kämen auf ihn zu, denn die Häuser werden inzwischen von allen linken Parteien und Gruppierungen der neuen Republik - mit Ausnahme der PDS als Geschäftsräumlichkeiten und Kommunikationszentrum genutzt, mit Billigung des Stadtrates. Die SPD hat in sechs Räumen des ersten Stockwerks ihre Kreis- und ihre Bezirksgeschäftsstelle untergebracht. Ein Stockwerk höher residieren die Potsdamer Denkmalpfleger, die bereits ein fertiges Konzept zur Nutzung der Gefängnisanlage vorlegten. Danach wollen sie die Zellentrakte im Erd- und im 1. Obergeschoß als Archiv und Depot nutzen, das 2. Obergeschoß will man dem Museum für Ur- und Frühgeschichte überlassen, und im obersten Teil soll eine „Mahnstätte gegen Faschismus und Stalinismus“ eingerichtet werden. Was die beiden verbliebenen Vorderhäuser angeht, so wartet man auch hier auf kommunale Entscheidungen - nach den Wahlen.

Erfolgreiches Infocafe

Im Nebenhaus versuchte man gerade deswegen vollendete Tatsachen zu schaffen: Eine unabhängige, den Grünen nahestehende Gruppe betreibt in drei Räumen ein sogenanntes „Info-Cafe“ - mit vollem Erfolg, denn die Kneipe ist der Renner der nächtlichen Potsdamer Szene. Tagsüber wuseln geschäftige Flugblattverteiler zwischen den Stasimöbeln hindurch, Diskussionsgruppen belagern den vorderen Raum, kichernde Teenager gucken sich um und überarbeitete Politmacher nehmen einen Kaffee im Stehen. Carola Stabe von der Bürgerinitiative Argus, die sich unter anderem für die Erhaltung der Potsdamer Altstadt einsetzt, war „das Gerücht zu Ohren gekommen, daß hier eine Modeboutique reinkommen und das ganze Haus übernehmen soll“. Argus belegt zusammen mit der Grünen Partei und der Vereinigten Linken den Rest des Hauses und hat großes Interesse daran, den Platz als Kommunikationszentrum für die wachsende Potsdamer Szene zu erhalten.

Über dem großen Eingangstor prangt noch die Videokamera, der letzte Schrei in der modernen Überwachungstechnik, an dem auch die Stasi nicht vorbeikam. Daneben hat die neue Belegschaft ein Spruchband mit der Aufschrift „Lindenhotel Haus für alle“ hochgezogen - Lindenhotel hieß die Festung bei den Insassen.