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Der Zeit hinterher und doch voraus

Die Mecklenburger Seenplatte: die am dünnsten besiedelte Großlandschaft Europas / Neuauflage von Plänen aus den fünfziger Jahren: Landschaftsschutzgebiet statt El Dorado des Tourismus / Möglichkeiten für ökologischen Landbau und sanften Bildungstourismus  ■  Von Heike Sommer

Von Zeit zu Zeit tut es gut, der Zeit hinterher zu sein. Zehn Jahre, fünfzig Jahre, hundert Jahre. Mecklenburg verschläft. Wie schön, sagt der Außenstehende. Alles Sachsen. Sie kommen im Sommer und spielen hier ihr Sommerstück, ganz nach Belieben und Geldbeutel. Es gibt Dörfer, die leben nur im Sommer. Totgesagte Dörfer. Opfer der Zentraldorfpolitik.

Doch so ganz ist Mecklenburg der Zeit nicht hinterher. Auch hier hat der menschliche Fortschritt seine Spuren hinterlassen. Auch hier stirbt der Wald. Bisher sind 40 Prozent der Waldfläche geschädigt. Eutrophierung, verursacht durch die Landwirtschaft und kommunale Abwässer, beeinträchtigt merklich die Wasserqualität der zahlreichen Seen. Ein Makel, und dennoch ließe sich diese Landschaft gewinnträchtig vermarkten.

Jetzt, nach Grenzöffnung in Richtung Ost und West, rechnen die Hiesigen mit einem sprunghaften Anstieg der Urlauberzahlen. Die schnelle Mark mit Massentourismus. Entsprechende Angebote finanzkräftiger Unternehmer liegen in etlichen Gemeinden und Städten vor. Das lockt. Zumal die Zukunft der Bauern hier, mit Blick auf die EG nicht gerade rosig aussieht.

Hier hat der Rat des Stadtbezirks voreiligen Entscheidungen Einhalt geboten. Das gesamte Gebiet der mecklenburgischen Seenplatte soll den Status eines Landschaftsschutzgebietes erhalten. Dieser Beschluß ist die einzige Alternative, um der einmaligen Landschaft östlich der Müritz eine Überlebenschance zu bieten.

Sie gilt als am dünnsten besiedelte Großlandschaft Mitteleuropas, ist überwiegend mit Wald bestanden, schließt das gesamte Gebiet der Havel sowie weitere Fließgewässer, über 60 Seen und viele Moore ein. Hier finden zahlreiche, vom Aussterben bedrohte Pflanzen und Tierarten Lebensraum.

In den nächsten zwei Jahren soll das Müritzgebiet als Nationalpark, das Feldberger Seengebiet als Naturschutzgebiet und das Gebiet Sehrahn als Biosphärenreservat entwickelt werden. Der künftige Nationalpark umfaßt eine Fläche von circa 30.000 Hektar. Hier bietet sich die Chance eines speziellen ökologischen Bildungstourismus.

In der Bevölkerung stößt dieser Nationalparkbeschluß auf Zu - und Widerspruch. Die einen verbinden den Begriff „Nationalpark“ mit Gängelei, Beschränkung, Chancenungleichheit. Die anderen benutzen ihn als Aushängeschild, um zwielichtige Geschäfte anzukurbeln.

Da wird dann beispielsweise auf der Touristenmesse in Westberlin in einem Prospekt der Saatzucht Bornhof bei Ankershagen Bauland an wunderschönen Seen angeboten. Auf Nachfrage beschwichtigen die Leiter: Das wäre alles nur denkbar. Die Belegschaft weiß von nichts. Aufklärung und Arbeit mit der Bevölkerung tut da not. Denn nur mit den Menschen hier, und nicht gegen sie, ist das Nationalparkprojekt realisierbar.

Die seit Anfang April arbeitende Aufbauleitung sieht darin vorrangig ihre Aufgabe. Sie will ihre Vorstellung vom sanften Tourismus als Vorschlag und nicht als Dogma anbieten: Keine Feriensiedlungen und Hotelketten, sondern die bisher vorhandenen Campingplätze in der Qualität erheblich verbessern. Mehr Zimmervermietung - dafür sollen alte Gutshäuser oder Schlösser ausgebaut werden. Dem naturnahen Tourismus entsprechende Angebote fürs Radfahren, Paddeln oder Wandern sind die Überlegungen gewidmet.

Die Dörfer sollen wieder selbständige Strukturen erhalten. Töpfereien, Tischlereien, Bäcker, Fleischer. Die Genossenschaften werden auf ökologischen Landbau, Tierhaltung und Fischerei orientiert. Dabei wären Zuschüsse bei Ertragsminderungen bzw. bei Übergang zur Grünlandbewirtschaftung denkbar.

Ökologische Produkte haben enorme Marktchancen. Müritzmilch, Müritzbutter - dazu müssen Vermarktungs- und Verarbeitungsstrukturen in den LPG geschaffen werden und damit Arbeitsplätze. Diese Landwirtschaft könnte Modellcharakter für die gesamte DDR tragen. Als wirkliche Alternative zu den Bestrebungen westliche Chemiefirmen, wie Hoechst und BASF.

Die Schaffung eines Müritz-Nationalparkes wurde bereits in den 50er Jahren diskutiert und als Kulturtat von nationaler Bedeutung gewertet. Mit der Erklärung zum Landschaftsschutzgebiet Müritz-Seenplatte wurde die Entwicklung zum Nationalpark eingeleitet, aber dann durch ideologische Schranken und Staatsjagd blockiert.

Die Müritz sollte jetzt zum Symbol eines Nationalparkprogramms werden, das der weiteren Zersiedlung, Mißhandlung und drohendem Ausverkauf von Landschaft zukunftsorientierte Modelle umfassender Landeskultur entgegensetzt.

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