: Das alte Frankreich und die neuen Franzosen
Frankreich tut sich schwer mit der Integration seiner Einwanderer / Reale Politik mit irrealen Problemen: Seit 1974 liegt die Zahl der in Frankreich lebenden Ausländer bei knapp 4,5 Millionen ■ Aus Paris Alexander Smoltczyk
Beginnen wir irgendwo im Nirgendwo der Pariser Banlieue, die sich endmoränengleich in dicken namenlosen Wülsten um die Kapitale gelegt hat: Zwischenlager für Bevölkerungen, die von den Stadtverplanern, Modernisierern und Vermietern immer weiter an den Rand gedrängt wurden. Früher wählten die Armen der Banlieue kommunistisch. Die Armen von heute dagegen dürfen meist nicht wählen, weil sie Ausländer sind. Der ehemals „rote Gürtel“ hat große braune Flecken bekommen: Unter den französischen Wählern der Banlieue kommt die Front National mittlerweile auf 15 bis 20%, mit steigender Tendenz.
Überall - außer in Montfermeil, der ruhigen Schlafstadt im Osten, städtepartnerschaftlich verbunden mit Wusterhausen bei Berlin. Hier brauchte Le Pen keine eigene Liste aufstellen, weil der konservative Bürgermeister Pierre Bernard ohnehin schon auf dem rechten Pfad wandelt. Bernard, ein etwas aufgeregter, aber freundlicher Mann in den Vierzigern, ist zur Kultfigur von Frankreichs Ausländerfeinden geworden, seit er sich über Jahre hinweg weigerte, ausländische Kinder in die kommunale Vorschule einschreiben zu lassen. Als die Schulleiterinnen sich - mit Rückendeckung von Präfekt und Minister - gegen diese Anmaßung des Bürgermeisters zur Wehr setzten, strich Bernard ihnen kurzentschlossen die Gelder für Heizung, Kantine und Schulbus.
„Es geht nicht an, daß in den Schulklassen nur ein einziges französisches Kind sitzt, das dann zu Hause plötzlich in afrikanischem Dialekt redet!“ rechtfertigt sich der eifrige Bürgermeister. Natürlich, so Bernard, könne man die Immigranten nicht rauswerfen, aber: „Um Ghettobildung zu vermeiden, müssen sie gleichmäßiger auf die Kommunen verteilt werden. Weshalb soll Montfermeil einen Ausländeranteil von 30% haben und (die Nachbargemeinde) Coubron praktisch keinen?“
Montfermeils Rathaus fungiert auch als Adresse einer Vereinigung zur Rettung des Abendlands „La France Debout“ (Aufrechtes Frankreich), deren 50.000 Mitglieder sich dem Kampf gegen einen „falschen Humanismus“ verschrieben haben. Ansprechpartner sind vor allem Lokalpolitiker, die - oft im Widerspruch zur offiziellen Parteilinie - vor Ort Privatkreuzzüge gegen die „Immigrantenflut“ führen. An denen herrscht leider kein Mangel: Einen Schulkampf ähnlich dem von Bernard, führte 1983 schon ein Amtskollege aus der Nachbargemeinde Clichy - ein Kommunist, der erst kürzlich wegen rassistischer Äußerungen von der Partei ausgeschlossen wurde.
„Sieg Heil“, prangt es am Boulevard Bargue, der sich wie eine unsichtbare Mauer durchs stille Montfermeil zieht und die Stadt in zwei Welten teilt. Nördlich der Straße gehen die Hunde an der Leine oder leben hinter Zäunen mit strenggezogenen Tulpenbeeten, zwischen denen sie unverhofft und feige hervorbellen; südlich streunen die Köter frei umher, denn dort beginnt „Le Bosquet“, das Haßobjekt des Monsieur Bernard und der 53% Montfermeil-Bewohner, die ihn 1989 wiedergewählt haben.
Romantiker würden die Siedlung mit ihren 32 Nationalitäten gewiß als „multikulturelle Nische“ bezeichnen. Die Leute in Montfermeil nennen den Ort schlicht „das Ghetto“: 1.550 Wohnungen, 9.000 Bewohner, davon 85% Ausländer. In den Aufzügen riecht es nach Windeln, in den Fluren nach Mafe und afrikanischem Fisch. Hinter den Türen muß sich - folgt man den Geschichten aus der Oberstadt - „Unsägliches“ abspielen: Vielweiberei, Widderschlachtungen in der Badewanne. Absolut gewiß ist jedoch, daß von den Jugendlichen hier jeder zweite ohne Arbeit ist. Kinos, Jugendklubs oder Cafes gibt es nicht, und der Bus braucht 45 Minuten bis zur nächsten Metrostation.
In den Sechzigern, als Paris aus den Nähten platzte und die Immobilienfirmen ringsumher planlos ihre Türme und Siedlungen errichten ließen, galt es als schick, in Le Bosquet zu wohnen. Aznavour bestellte sich gleich 30 Appartements, andere nahmen Kredite auf, um sich hier einen Alterssitz zu finanzieren. Gebaut wurde die Siedlung von portugiesischen und nordafrikanischen Arbeitern, die damals vom französischen Staat mit offenen Armen empfangen wurden.
Mitte der siebziger Jahre war dann plötzlich alles anders: Die privaten Wohnungsgesellschaften hatten entdeckt, daß es profitabler war, an Immigranten zu vermieten, die nicht kleinlich auf Instandhaltung beharrten. Dann wurden ehemalige Bewohner der Pariser Wellblechsiedlungen, der „Bidonvilles“, angesiedelt - und schon zogen die Franzosen, die es sich leisten konnten, in die Oberstadt. Seither leben die beiden Montfermeils diesseits und jenseits des Boulevard Bargue nebeneinander her, die Zäune im Pavillonviertel wurden höher und dichter, so daß schließlich nur noch Schauergeschichten und böse Gerüchte durchdringen konnten.
Der damalige kommunistische Bürgermeister setzte 1983 durch, daß alle freiwerdenden Wohnungen vom Staat aufgekauft und nach einem bestimmten Schlüssel vergeben werden. Doch 1983 war auch das Jahr, in dem das sozialistische Projekt der Linken Schiffbruch erlitt. Weil die Kapitalisten plötzlich in allen Ehren rehabilitiert wurden, verschwammen die Grenzen zwischen Links und Rechts, und die Front National konnte mit ihrem klaren Feindbild „Immigrant“ erste Erfolge erzielen. Auch Montfermeil wählte sich einen neuen Bürgermeister: Pierre Bernard, den aufgeregten Mann aus der besseren Hälfte des Ortes. Bernard möchte Le Bosquet nicht sanieren, sondern nach und nach abreißen lassen.
Daß es besser gewesen wäre, Siedlungen wie Le Bosquet gar nicht erst zu bauen, darin stimmt auch die kommunistische Gemeinderatsfraktion mit Bernard überein. „Natürlich ließen sich Neu-Franzosen leichter integrieren, wenn sie statt in wenigen Vorstadtghettos konzentriert über das ganze Departement verteilt würden“, meint Isabelle Goutmann, KPF -Gemeinderätin und Mitglied im Bürgerkomitee der Siedlung. Nur: dank der erfolgreichen Dezentralisierungspolitik sind Frankreichs Bürgermeister mächtig genug, sich gegenüber dem Zentralstaat einfach zu weigern, Wohnungen für Immigranten bereitzustellen. Ein Regionalplan für den Großraum Paris, mit dem Premier Rocard Chancen und Lasten gleichmäßiger verteilen möchte, stieß bisher auf erbitterten Widerstand. Damit die Ausländer nicht ganz auf der Straße sitzen, sprangen die Sozialwohnungsbehörden der ärmeren Departements, in deren Vorständen oft Kommunisten sitzen, ein und verteilten ihre Wohnungen vorrangig an Immigrantenfamilien.
So auch in Le Bosquet. Mit seinem spektakulären Vorgehen gegen Vorschüler wollte Bernard das Sozialwohnungsamt zwingen, ihn Einfluß auf die Wohnungsvergabe nehmen zu lassen. Das ist ihm im März schließlich auch gelungen. Von nun an sollen Wohnungen in Le Bosquet nur noch an Franzosen vergeben werden.
Der Erfolg? „Drüben in Bau zwei stehen jede Menge Wohnungen leer, weil kein Franzose einziehen will. Also kommen die Afrikaner mit ihren falschen Papieren, brechen die Türen auf und bleiben“, meint der 17jährige Farid und schwenkt eine Messingwaage, mit der er gerade ein beeindruckendes Piece abgewogen hat. „Die Afrikaner von drüben“ sind die Buhmänner von Farid und seinem Clan maghrebinischer Jugendlicher.
Auch Le Bosquet ist nicht frei von unsichtbaren Grenzen die aber umso spürbarer sind. Er sei natürlich kein Rassist, sagt Farid, aber: „Die wohnen zu 15 in einer Wohnung. Wenn es warm ist, wird die ganze Nacht Krach gemacht, die Männer besaufen sich und werden frech.“ Noch sei es in Le Bosquet nicht zu Bandenkriegen gekommen wie in anderen Siedlungen. Aber es herrscht kalter Krieg. Man spricht nicht miteinander. So wird Farid wohl kaum erfahren, daß die angeblichen Besetzer meist nur Opfer von Betrügern sind, die Wohnungen vermitteln, die ihnen gar nicht gehören. Aber die Wirklichkeit ist immer komplizierter als die bequemen Geschichten, vor allem in Le Bosquet, wo die Realitäten aus 32 Ländern aufeinandergestapelt sind. „Es genügen zehn Minuten, um einem Arbeitslosen einzureden, daß die Ausländer an seiner Misere schuld sind“, hatte Isabelle Goutmann gesagt, „aber du braucht zehn Stunden, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen.“ Und wer hat schon die Zeit?
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