: Bleibt Kreuzberg sozialer Schmuddelkiez?
■ Durch den Abriß der Mauer gehört Kreuzberg bald zum begehrten Citybereich / Die sozialen Probleme des Bezirks könnten dabei vergessen werden / Besonders das Freizeitangebot für Jugendliche ist seit Jahren nicht viel besser geworden
Kreuzberg. Kreuzberg ist im Umbruch - und das nun schon seit mehreren Jahren. Jetzt, durch den Fall der Mauer, soll sich der krisengeschüttelte Bezirk aus seiner Perspektivlosigkeit erheben und zur pulsierenden City des künftigen Groß-Berlin wandeln. Der Schmuddelkiez der Stadt darf (?) also künftig auch mal Frischluft (???) atmen - möglicherweise fegt dann jedoch der deutsche Einheitswind auch über die nach wie vor bestehenden massiven sozialen Probleme einfach hinweg (!!!, d.Korr.).
Ein Blick zurück in das Jahr 1987: Einen Tag nach der Eröffnung der 750-Jahr-Feier erlebte der Südosten Berlins die schwersten Straßenschlachten der letzten Jahre. An den Zerstörungen und Plünderungen beteiligten sich nicht etwa nur, wie es der damalige Innensenator Kewenig (CDU) so gern wahrhaben wollte, die „Antiberliner“, sprich: die Autonomen, sondern der Großteil der Kreuzberger Bevölkerung.
Der Kater folgte auf dem Fuße und äußerte sich in hektischer Ursachenforschung: Als „Nährboden für die, die nichts mehr zu verlieren haben“, bezeichnete der damalige Jugendstadtrat und heutige Bezirksbürgermeister Günter König (SPD) seinen Bezirk: Drogenmißbrauch, Kindermißhandlungen und Generationskonflikte, fast drei Viertel der in den Kindertagesstätten betreuten Kinder kämen aus zerrütteten Familienverhältnissen, etwa 40 bis 50 Prozent der deutschen und etwa 70 Prozent der ausländischen Jugendlichen seien ohne Arbeit und Ausbildung. Als Sofortmaßnahmen forderte König eine Erhöhung der Sozialhilfesätze und mehr Sozialarbeiterstellen sowie unkonventionelle Konzepte zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Der damalige Oppositionsführer Walter Momper: Wenn nicht Ursachenforschung betrieben und soziale Stabilisierung geboten werde, könnten sich die „Krawalle“ jederzeit wiederholen.
„Nicht kleckern, sondern mit Geldern zur Sicherung des Wohn - und Arbeitsfeldes in Kreuzberg klotzen“, hieß damals die Devise der SPD. Geklotzt wurde dann jedoch nur noch auf der Straße: Drei Jahre danach hat sich die „Randale in Kreuzberg“ institutionalisiert. Ein nach dem 1.Mai eingerichteter Ausschuß, der sich mit den sozialen Ursachen der Auseinandersetzungen und deren Lösung beschäftigen sollte, wurde ein Jahr später wieder aufgelöst - doch an den sozialen Verhältnissen hat sich bis heute nichts geändert. Noch immer liegt die Zahl der arbeitslosen ausländischen Jugendlichen bei rund 70 Prozent, knapp 14.000 KreuzbergerInnen empfangen Sozialhilfe. Durch die Aufhebung der Mietpreisbindung und zunehmende Privatmodernisierung hat sich die Lage auf dem Wohnungsmarkt weiter verschärft. Immerhin: Neun Millionen DM stehen in diesem Jahr für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur Verfügung, das ist doppelt soviel wie in Neukölln, und im letzten Jahr hat der Bezirk allein eine Million DM zur Tilgung von Mietschulden hingeblättert. Kreuzberg ist der einzige Bezirk, in dem Sozialhilfeempfänger keinen festen Wohnsitz vorweisen müssen. Doch langfristige Perspektiven kann der Bezirk nicht bieten. Vor allem Ausländer müssen massiv hintanstehen, ein Freizeitangebot für Jugendliche im Kiez existiert so gut wie überhaupt nicht. „Das Bezirksamt ist ja willig, aber der Senat macht denselben Quatsch wie immer und steckt nur da Geld rein, wo die Not mal offensichtlich wird!“ schimpft Michael Fröhling vom Verein SO36. Die Folge: In Form von Jugendbanden finden die Kids auf eigene Faust ihre Identität.
Hohe Dauerarbeitslosigkeit und soziale Vernachlässigung bleiben. Nach dem 9.November rutschen viele KreuzbergerInnen noch weiter nach unten: „Fortan werden doch alle Gelder im Osten investiert“, befürchtet Fröhling, „dort arbeiten die Sozialarbeiter zu Dumpingpreisen.“ Kreuzberg als künftige City ist dann vor allem interessant für private Investoren, „denen dann wohl kaum die Lösung der sozialen Probleme am Herzen liegt!“ Zu befürchten ist für die Kreuzberger eine ganz neue Qualität des Umbruchs - die Verdrängung aus dem Kiez in die östlichen Slums von Groß-Berlin.
maz
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