Hastiger Geigerzähler

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(Leben in der Todeszone, ARD, Montag, 21.30 Uhr) Bilder oder Köpfe? Gerd Ruge hat sich für Köpfe entschieden. Aneinandergereiht, nur durch ein paar Zwischenschnitte von Straßenszenen getrennt, gleiten die Aussagen Betroffener des Reaktorunglücks in Tschernobyl an uns vorbei: die überforderte Ärztin, der Strahlenkranke im Behandlungszimmer, die Kinder, die richtigen Wald nur aus dem Schulunterricht kennen, oder die Mutter, die sich wie eine Mörderin fühlt, weil sie Tomaten anbaut, um ihren Kindern ab und zu - wenn auch verstrahltes - Frischgemüse bieten zu können.

Übelkeit, Schwindelgefühle, Ohnmachten, „alles Krankheiten, die man nicht sehen kann“, sagen die Landarbeiter, die für die Kartoffelernte den doppelten Lohn erhalten, „Sarggeld“, wie sie es nennen. Das Unsichtbare an der Gefahr ist es, das den Chronisten vor die Schwierigkeit stellt, etwas zeigen zu müssen, ohne es unmittelbar abbilden zu können. Daß Gerd Ruge in seiner Stellung als Korrespondent neben der Alltagsroutine vielleicht nicht genug Zeit blieb, um nach geeigneten Bildern zu suchen, ist zu verzeihen.

Doch der Griff zum Geigerzähler, der uns mittelbar mitteilen soll, wie gefährlich das Leben in der Todeszone von Tschernobyl auch vier Jahre nach der Katastrophe ist, kommt zu vorschnell. Gerd Ruge läßt sich und dem Zuschauer keine Atempause, um die Bedeutung der Eindrücke zu erfassen, die er während seiner Reise durch die verstrahlten Gebiete gesammelt hat. Hastig eilt er mit dem Dosimeter von Ort zu Ort und glaubt, allein über die Quantität Entsetzen zu erzeugen. Das Gegenteil tritt ein. Die Zahl, die auf der Digitalanzeige erscheint, bleibt nur eine Zahl mathematische Einheit für die Folgen des Super-GAUs. Das rosige Schwein auf dem Weg zum Metzger bleibt ein Stück Schlachtvieh, auch wenn der beschwörende Kommentar von überschrittenen Grenzwerten spricht. Radioaktivität ist unsichtbar. Sie bleibt es, wenn man sich allein auf Meßgeräte verläßt und auf Köpfe, aber nicht die Bilder zum Sprechen bringt.

Christof Boy