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Multikulturelle Gesellschaft ade!

■ Morgen verabschiedet der Bundestag eines der umstrittensten Gesetze dieser Legislaturperiode: das neue Ausländergesetz. Damit wird nach 25 Jahren in der BRD erneut juristisch negiert, was faktisch längst stattgefunden hat: die Einwanderung von rund 4,5 Millionen Menschen, denen eine gleichberechtigte Behandlung verweigert wird. Das neue Gesetz gleicht einer Kampfansage an die multikulturelle Gesellschaft.

Die Aktion war rein symbolisch - und zu schön, um wahr zu sein: mit einem klaren „Nein Danke“ gaben vor wenigen Tagen VertreterInnen mehrerer türkischer Organisationen in Berlin den Entwurf für ein neues Ausländergesetz dem Berliner Innensenator Erich Pätzold (SPD) zurück. „Wir sind nicht bereit“, so die Erklärung der ImmigrantInnen, „unter einem solchen Gesetz zu leben.“ Der Innensenator versprach vollmundig, eine zukünftige SPD-Bundesregierung werde das Gesetz zurücknehmen. Ansonsten trug er's mit Fassung, schließlich sitzt der eigentliche Adressat der Aktion im Bundesinnenministerium in Bonn und heißt Wolfgang Schäuble. Und nicht nur die Berliner Türken werden vorerst einmal damit leben müssen. An der Verabschiedung des Entwurfs morgen im Bundestag und am 11. Mai im Bundesrat ist nicht mehr zu rütteln - obwohl kaum ein Gesetz derart einhellige Kritik von Parteien, Bürgerrechtsgruppen, Immigrantenorganisationen, Kirchen oder Gewerkschaften geerntet hat wie der sogenannte Schäuble-Entwurf.

Es mag an seinem Vorgänger gelegen haben, daß zunächst niemand so recht aufhorchte, als Schäuble im September letzten Jahres seinen Entwurf für ein neues Ausländergesetz vorstellte. Der Schwabe ist zweifellos ein umgänglicherer Typ als der Bayer Zimmermann, völkische Rhetorik oder reaktionäre Kraftsprüche liegen ihm fern. Daß letztlich dieselben Fachbeamten die Feder führten wie unter dem CSU -Mann, dämmerte Gewerkschaften, Kirchen und Immigrantengruppen erst, als sich ihre Hausjuristen durch den Paragraphendschungel gekämpft hatten. Auf einer ersten Anhörung der Grünen Anfang November formierte sich ein Protestspektrum von Kirchen über Wohlfahrtsverbände, Anwaltsvereinigungen bis zu den Gewerkschaften, die vor allem das vorgesehen Rotationsprinzip für ausländische ArbeitnehmerInnen ablehnten. Als „populistisch und pessimistisch“ bezeichneten die katholische Bischöfe den Schäuble-Entwurf.

Auch in den CDU-Sozialausschüssen wurde Kritik laut. Die Hoffnung, den Gesetzentwurf noch verhindern zu können, schrumpfte allerdings, als die Bundesregierung Mitte Dezember den Entwurf per Eilverfahren auf den Weg durch die Legislative schickte - der Grund war offensichtlich: Man befürchtete, ein Wahlsieg der SPD in Niedersachsen am 13. Mai könnte die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat zugunsten der Sozialdemokraten ändern - und damit die Verabschiedung des Gesetzes noch in dieser Legislaturperiode verhindern.

Bundesweite

Protestaktionen

Die Kritik am Gesetzentwurf fand bis dahin vorwiegend auf Anhörungen und Fachveranstaltungen statt. Die betroffenen ImmigrantInnen und Flüchtlinge selbst benötigten erst einmal einige Zeit, um aus dem deutschnationalen Nebel des 9. November wieder aufzutauchen. Dann allerdings ging in Berlin, Hamburg, München, Köln und anderen Städten ein Ruck vor allem durch die türkische Gemeinde. Die Öffnung der Mauer - so Alisan Genc, Mitinitiator des Berliner Aktionsbündnisses türkischer Gruppen - habe bei vielen seiner Landsleute einen „Bewußtseinsschub“ ausgelöst. „Die haben sich bis vor kurzem noch ausdrücklich als Türken empfunden. Jetzt sehen sie sich selbst als das, was sie sind: Einwanderer.“ In Köln wurde im Januar die türkische Bürgerinitiative gegen das Ausländergesetz, „Vatandas Girisimi“, aus der Taufe gehoben - ein Zusammenschluß von Gruppen, die bis dahin zerstritten waren: linke Organisationen, regierungstreue Vereine, religiöse Gruppierungen. Entsprechende Bündnisse kamen auch in München und Berlin zustande, wo sich 27 Organisationen - von den türkischen Sozialdemokraten über Moscheevereine bis zu Fußballclubs zusammenschlossen.

Die Protestaktionen, die nun kurz vor der Verabschiedung des Gesetzes anlaufen, reichen von einer Großdemo in Bonn, über Ausbürgerungsanträge für Deutsche bis zur Aufforderung an ImmigrantInnen und Deutsche, aus Protest gegen das Gesetz, einen Tag lang ihre Bankkonten leerzuräumen. Die Grünen in Bonn sondieren zudem die Möglichkeit einer Normenkontrollklage vor dem Bundesverfassungsgericht. Mittlerweile greift der Protest auch auf diejenigen über, die dem Etikett nach gar nicht betroffen sind: die InländerInnen. Laut Gesetz sind in Zukunft MitarbeiterInnen „öffentlicher Stellen“ - also ErzieherInnen in staatlichen Kindergärten, LehrerInnen, ÄrztInnen und AnwältInnen im Öffentlichen Dienst, aber auch die MitarbeiterInnen von Arbeits-, Finanz-, Jugend- und Sozialämtern - verpflichtet, mögliche Gesetzesverstöße von ImmigrantInnen bei der Ausländerbehörde zu melden.

Denunziation per Gesetz

Als „innerstaatliche Feinderklärung an alle hier lebenden AusländerInnen“ wertete dies der Hamburger Jurist Gerhard Strate auf einem gemeinsamen Kongreß von Grünen und AL zum Ausländergesetz Ende März in Berlin. Per Gesetzesbefehl solle der gesamte Öffentliche Dienst in ein „Heer von Zuträgern und Denunzianten“ umgewandelt werden, erklärte Strate, der Mitherausgeber des Informationsbriefs zum Ausländerrecht ist.

„Rein deutsche“ Frauenhäuser

In Hamburg haben Lehrerkollegien sich in Briefen an Bundestagsabgeordnete bereits „selbst bezichtigt“, auf keinen Fall irgendwelche Informationen über nicht-deutsche SchülerInnen an die Ausländerbehörde weiterzugeben. Entsprechend haben sich auch die MitarbeiterInnen der Hamburger Ämter für soziale Dienste in einem offenen Brief geäußert. In Berlin ruft die „Humanistische Union“ alle MitarbeiterInnen des Öffentlichen Dienstes auf, jede Kooperation mit den Ausländerbehörden in solchen Fällen zu verweigern.

Unter anderem der sogenannte „Spitzelparagraph“ des Gesetzentwurfs rief vor wenigen Tagen auch die MitarbeiterInnen von über 50 autonomen Frauenhäusern in der Bundesrepublik und West-Berlin auf den Plan. „Vorsorglich“ wurde den Behörden mitgeteilt, daß jegliche Spitzeldienste verweigert würden. Die Mitarbeiterinnen befürchten, daß das neue Ausländergesetz die Frauenhäuser zu „rein deutschen“ Einrichtungen machen werde. Frauen, die ins Frauenhaus fliehen, sind in der Regel gezwungen, Sozialhilfe zu beanspruchen - für Immigrantinnen kann dies nach dem neuen Gesetzentwurf die Ausweisung bedeuten. Diesen Frauen müsse man in Zukunft raten, weiterhin zu Hause bei ihren prügelnden Männern zu bleiben, wollten sie nicht die Ausweisung riskieren.

Böse Vorahnungen hegt man unterdessen in Berliner ImmigrantInnenorganisationen, daß der Entwurf auch den AusländerInnen in der DDR droht. Vor allem, nachdem sich Schäuble und sein DDR-Amtskollege Diestel schnell einig waren, Ausländer- und Einreisebestimmungen zu harmonisieren. In Berlin wollen sich in den nächsten Tagen Ausländergruppen aus Ost und West zusammensetzen, um zu verhindern, daß die beiden deutschen Staaten auch in dieser Hinsicht zusammenwachsen.

Andrea Böhm

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