: Popularistisch
■ betr.: "Unter den Linden" (Arno Widmann), taz vom 7.4.90, Leserbrief von H.J. Michel, taz vom 19.4.90
betr.: „Unter den Linden“ (Arno Widmann), taz vom 7.4.90, Leserbrief von H.J. Michel,
taz vom 19.4.90
Bedauerlicherweise kann ich den Arno-Widmann-Artikel nicht als Ausrutscher betrachten. Mir scheint, als hätte diese ganz spezifische Art der Berichterstattung zur Zeit eine breitere Geltung in der BRD-Presse: Buten und Binnen (Radio Bremen-TV) berichtete zur Jahreswende über eine Bremer Partnerstadt im Osten, insbesondere über den neuen Journalismus, der kritisches Berichten erst mal lernen muß usf. Dies mag durchaus stimmen, aber es betrifft nicht nur den Ostjournalismus: man braucht nur eine beliebige Westnachrichtensendung einzuschalten, um ein Beispiel für unkritischen Journalismus zu bekommen.
Weiterhin wurde von der BRD-Presse (auch der linken), das Thema „Bonzenwohnungen der SED-Kader“ breit ausgewalzt. Mir erscheint es durchaus verständlich, wenn DDR-Bürgern darüber der Hut hochgeht, sie waren es ja schließlich, die unter der SED-Knute standen; das ist ausgleichende Gerechtigkeit. Wenn aber das Westfernsehen daraus einen Skandal macht, wobei klar ist, daß nicht wenige dieser Journalisten über eine weitaus besser ausgestattete Bude verfügen, als die Spitze der SED-Spießer, die darin vor allem deutsch waren, dann ist dies nur noch als Hetze zu charakterisieren, nicht als Information.
In diesem Zusammenhang der verzerrten, besserwisserischen Berichterstattung reiht sich auch der Arno-Widmann-Artikel ein: Es gibt zwei Arten zu berichten: kritisch oder popularistisch; das ist eine (politische) Formsache. Schriftsteller/Künstler sind so wenig wie andere Menschen notwendig über Kritik erhaben, aber Arno Widmanns Kritik erfüllt eben nicht die Merkmale eines kritischen Journalismus, sondern die einer popularistischen (...). Man kann sich nämlich fragen, was es soll, dem ohnehin großen Abstand zwischen Volk und Intellektuellen noch eine Art Pogromstimmung hinzuzufügen; das ist ein ganz entscheidendes Stück mehr als nur eine „gnadenlose Abrechnung“ (H.J. Michel). Diese drei Fälle fügen sich zu einem Gesamtbild zusammen, welches nahelegt, daß die deutsche Linkspresse doch einiges - mal mehr, mal weniger - von den Regeln des popularistisch-nationalen Journalismus mitgekriegt hat. Vielleicht hat sie schon vergessen, daß der Propagandatrick von der freien Marktwirtschaft eben nur Propaganda ist. Es ist ja nichts neues, aber daß die BRD das Gelbe und die DDR das Weiße vom Deutsch-Ei (Anm.: zur Zeit werden auch braune Eier-Gene in die DDR importiert) sei, ist nur eine grobe Behauptung, die hauptsächlich durch popularistische Unterschlagung von Vergleichen erzeugt wird: ein ebenso alter wie einfallsloser, aber wirksamer Propagandatrick (Ablenkung vom Wesentlichen). Den wesentlichen Unterschied Unterschied zwischen VS/BND und Stasi, Bundeswehr und NVA, SED- oder CDU-Kader und so weiter, kann ich nicht so bequem ausmachen, wie es seit 40 Jahren behauptet wird.
Dierk, Freiburg
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