: Die Rückkehr der Moral
■ Michel Foucault im Gespräch über die Frage des Subjekts und den antiken Stil der Existenz
In Umberto Ecos Roman „Das Foucaultsche Pendel“, der angeblich mit dem Philosophen Foucault nichts zu tun hat, erscheint relativ willkürlich ein Datum: der 25.Juni 1984. Das ist der kaum verschlüsselte Hinweis darauf, wen Eco mit seinem Buch wirklich im Blick hat: Der 25.Juni 1984 war der Todestag Michel Foucaults. Eco kann sich sowohl methodisch auf ihn beziehen (er beschreibt eine diskursive Formation) als auch thematisch (er interessiert sich für die Beziehungen zwischen Wissen und Macht).
Diskurs, Wissen, Macht. Das sind die bekannten Foucault -Motive. In seinen letzten Jahren ging Foucault jedoch dazu über, die Frage nach dem Subjekt auf überraschende Weise neu zu stellen. In dem hier erstmals übersetzten letzten Gespräch, das Gilles Barbedette und Andre Scala wenige Tage vor seinem Tod mit Foucault für die Zeitschrift 'Les nouvelles litteraires‘ führten, steht dieses Thema im Zentrum.
Foucault spricht über seine damals gerade eben erschienenen Arbeiten „Der Gebrauch der Lüste“ und „Die Sorge um sich“ (1984, dt. 1986), die zur Entdeckung des antiken Stils der Existenz führten, und geht auch auf sein Verhältnis zu Nietzsche und Heidegger ein. Aus diesem Gespräch wurde in den letzten Jahren häufig zitiert, ohne daß aus den kursierenden Zitatfetzen der Zusammenhang klargeworden wäre. Die taz dokumentiert nun das Gespräch (gekürzt).Wilhelm Schmid
Was bei der Lektüre Ihrer letzten Bücher überrascht, ist die klare, glatte Schreibweise, die sich sehr von dem Stil unterscheidet, an den wir gewohnt waren. Warum dieser Wechsel?
Michel Foucault: Ich bin gerade dabei, die Manuskripte neu zu lesen, die ich für diese Geschichte der Moral geschrieben habe und die den Beginn des Christentums behandeln (diese Bücher - das ist ein Grund ihres verspäteten Erscheinens werden in der umgekehrten Reihenfolge ihrer Abfassung vorgelegt). Beim erneuten Lesen dieser seit langem liegengebliebenen Manuskripte finde ich die gleiche Absage an den Stil der Ordnung der Dinge, der Geschichte des Wahnsinns oder des Raymond Roussel wieder. Ich muß sagen, daß mir das zu schaffen macht, denn dieser Bruch ist nicht allmählich eingetreten. Sehr plötzlich, ab 1975/76, habe ich diesen Stil völlig aufgegeben, in dem Maße, wie ich den Gedanken hatte, eine Geschichte des Subjekts zu schreiben, die nicht die Geschichte eines Ereignisses wäre, das sich eines Tages vollzogen und dessen Entstehung und Ende man zu erzählen hätte.
Sind Sie nicht durch Ihre Ablösung von einem bestimmten Stil mehr Philosoph geworden als Sie es vorher waren?
Sofern man zugesteht - und ich stimme dem zu! - daß ich mit Die Ordnung der Dinge, mit der Geschichte des Wahnsinns, sogar mit Überwachen und Strafen eine wesentlich philosophische Untersuchung vorgenommen habe, gestützt auf eine bestimmte Verwendung des philosophischen Vokabulars, des philosophischen Spiels, der philosophischen Erfahrung, und daß ich mich dem vollständig ausgeliefert habe - dann ist es gewiß, daß ich jetzt versuche, mich von eben dieser Form von Philosophie zu lösen. Tatsächlich aber, um sie als ein Erfahrungsfeld zu benutzen, das zu studieren, planmäßig zu erfassen und zu organisieren ist. Diese Periode, die von manchen für eine radikale Nicht-Philosophie gehalten werden kann, ist also zugleich eine Weise, die philosophische Erfahrung radikaler zu denken.
Es scheint, daß Sie Dinge explizit machen, die man in Ihren früheren Arbeiten nur zwischen den Zeilen lesen konnte.
Ich muß sagen, daß ich die Dinge nicht so sehen würde. Mir scheint, daß in der Geschichte des Wahnsinns, in Die Ordnung der Dinge und auch in Überwachen und Strafen vieles, was sich implizit darin fand, auf Grund der Art, in der ich die Probleme stellte, nicht deutlich gemacht werden konnte. Ich habe versucht, drei große Problemtypen auszumachen: das Problem der Wahrheit, das der Macht und das der individuellen Lebensführung. Diese drei Erfahrungsbereiche können nur in ihrer wechselseitigen Beziehung und nicht unabhängig voneinander verstanden werden.
In den früheren Büchern hat mir im Weg gestanden, daß ich die beiden ersten Erfahrungen bedacht habe, ohne die dritte zu berücksichtigen. Als ich diese letzte Erfahrung auftauchen ließ, schien mir, daß es da eine Art Fadenlauf gab, der, um gerechtfertigt zu sein, nicht auf die ein wenig rhetorischen Methoden zurückgespult zu werden brauchte, durch die man einem der drei grundlegenden Erfahrungsbereiche ausgewichen war.
Die Frage des Stils zieht auch die der Existenz nach sich. Wieso kann man aus dem Lebensstil ein großes philosophisches Problem machen?
Schwierige Frage. Ich bin nicht sicher, eine Antwort geben zu können. Ich glaube in der Tat, daß in der antiken Erfahrung die Frage des Stils zentral ist: Stilisierung des Bezugs zu sich selbst, Stil der Lebensführung, Stilisierung des Verhältnisses zu den andern. Die Antike hat nicht aufgehört, die Frage zu stellen, ob es möglich wäre, einen diesen verschiedenen Verhaltensbereichen gemeinsamen Stil zu definieren. Tatsächlich würde die Entdeckung dieses Stils es zweifellos erlaubt haben, zu einer Definition des Subjekts zu gelangen. Die Einheit einer „Moral des Stils“ hat man erst im Römischen Reich zu denken begonnen, im zweiten, dritten Jahrhundert und sofort in Begriffen des Kodex und der Wahrheit.
Ein Existenzstil, das ist wunderbar. Haben Sie die Griechen bewundernswert gefunden?
Nein.
Weder beispielhaft noch bewundernswert?
Nein.
Wie haben Sie sie gefunden?
Nicht sehr großartig. Die sind gleich über das gestolpert, was mir die Widersprüchlichkeit der antiken Moral zu sein scheint - zwischen dieser beharrlichen Suche nach einem bestimmten Existenzstil einerseits und der Anstrengung, ihn für alle verbindlich zu machen, andererseits; einem Stil, dem sie sich wahrscheinlich mehr oder weniger undeutlich mit Seneca und Epiktet angenähert haben, der aber nur die Möglichkeit fand, sich innerhalb eines religiösen Stils zu gestalten. Die ganze Antike scheint mir ein „gründlicher Irrtum“ gewesen zu sein (lacht).
Sie sind nicht der einzige, der den Begriff des Stils in die Geschichte einführt. Peter Brown tut es in „Die letzten Heiden„1.
Meine Verwendung des Wortes „Stil“ übernehme ich zu einem großen Teil von Peter Brown. Aber was ich jetzt gleich sagen werde, bezieht sich nicht auf das, was er geschrieben hat, und verpflichtet sich in keiner Weise. Dieser Begriff des Stils scheint mir in der Geschichte der antiken Moral sehr bedeutend zu sein. Ich habe über diese Moral soeben abfällig gesprochen, man kann versuchen, wohlwollend darüber zu sprechen. Zunächst richtete sich die antike Moral nur an eine ganz geringe Anzahl von Individuen, sie forderte nicht, daß alle und jeder dem gleichen Verhaltensschema gehorchen. Sie betraf nur eine winzige Minderheit der Leute, und sogar der freien Leute. Es gab mehrere Formen von Freiheit. Die Freiheit des Staatsoberhaupts oder des Heerführers hatte mit der des Weisen nichts zu tun. Dann hat sich diese Moral ausgeweitet. In der Epoche Senecas, um so mehr noch in der Marc Aurels, sollte sie unter Umständen alle angehen; es ging aber nie um die Frage, aus ihr eine Verpflichtung für alle zu machen.
Das war für die Individuen eine Angelegenheit ihrer Wahl: Jeder konnte an dieser Moral teilhaben. So daß es trotzdem sehr schwierig ist, zu wissen, wer sich in der Antike und im Römischen Reich dieser Moral anschloß. Man ist also sehr weit von den moralischen Konformitäten entfernt, deren Schema die Soziologen und Historiker ausarbeiten, indem sie sich an einer angeblichen Durchschnittsbevölkerung ausrichten. Was Peter Brown und ich zu tun versuchen, gestattet es, Individuen, die in der antiken Moral oder im Christentum eine Rolle gespielt haben, in ihrer Einzigartigkeit hervortreten zu lassen. Man steht am Beginn dieser Studien über den Stil, und es wäre interessant zu sehen, wie die Verbreitung dieses Begriffs vom vierten Jahrhundert vor Christus bis zum ersten Jahrhundert unserer Zeit gelaufen ist.
Man kann die Moral eines Philosophen der Antike nicht studieren, ohne zugleich seine ganze Philosophie zu berücksichtigen, und besonders wenn man an die Stoiker denkt, sagt man sich, daß gerade deshalb, weil Marc Aurel weder eine Physik noch eine Logik hatte, seine Moral eher auf das gerichtet war, was Sie den Kodex nennen, als auf das, was Sie Ethik nennen.
Sie machen, wenn ich recht verstehe, aus dieser langen Entwicklung das Ergebnis eines Niedergangs. Sie würden bei Platon, Aristoteles, den frühen Stoikern eine Philosophie sehen, die zwischen den Konzeptionen der Wahrheit, der Politik und des privaten Lebens ein besonderes Gleichgewicht gehalten hätte. Nach und nach, vom dritten Jahrhundert vor Christus bis zum zweiten Jahrhundert unserer Zeit, hätten die Leute die Fragen nach der Wahrheit und der politischen Macht fallengelassen und sich Fragen der Moral gestellt. Tatsächlich bildete - von Sokrates bis Aristoteles - die philosophische Reflexion im allgemeinen den Boden einer Theorie der Erkenntnis, der Politik und der individuellen Lebensführung. Und dann ist die politische Theorie verkümmert, weil die antike Polis verschwunden und durch die großen Monarchien ersetzt worden ist, die auf Alexander folgten.
Die Konzeption der Wahrheit hat sich aus komplizierteren, aber, wie es scheint, derselben Ordnung angehörenden Gründen ebenfalls zurückgebildet. Schließlich ist es im ersten Jahrhundert dazu gekommen, daß die Leute gesagt haben: Die Philosophie hat sich überhaupt nicht mit der Wahrheit schlechthin zu befassen, sondern mit den nützlichen Wahrheiten der Politik und vor allem der Moral. Man hat die große Szene der antiken Philosophie: Seneca, der gerade während der Zeit zu philosophieren beginnt, da er sich im Urlaub von der politischen Aktivität befindet. Er ist verbannt worden, wieder an die Macht gelangt, er hat sie ausgeübt, dann ist er in ein halbes Exil zurückgeschickt worden und in völliger Verbannung gestorben. In eben diesen Perioden gewinnt der philosophische Diskurs seinen ganzen Sinn für ihn.
Dieses sehr wichtige, wesentliche Phänomen ist, wenn man so will, das Mißgeschick der antiken Philosophie oder jedenfalls der historische Punkt, von dem an sie einer Form des Denkens Raum gegeben hat, die sich im Christentum wiederfinden sollte.
Es könnte scheinen, daß wir eine Erfahrung der Sexualität haben, die sich sehr von der unterscheidet, die Sie den Griechen zuschreiben. Gibt es bei ihnen, wie bei uns, Platz für die Besinnungslosigkeit der Liebe, für den Selbstverlust? Kommuniziert ihre Erotik mit dem Fremdartigen?
Ich kann Ihnen nicht allgemein darauf antworten. Ich werde Ihnen als Philosoph antworten, das heißt soweit ich es aus Texten gelernt habe, die philosophischer Art sind. Mir scheint wirklich, daß es in diesen Texten, die vom vierten Jahrhundert vor Christus zum zweiten Jahrhundert unserer Zeit reichen, kaum eine Konzeption der Liebe gibt, die geeignet gewesen wäre, diejenigen Erfahrungen zu repräsentieren, von denen Sie sprechen, die des Liebeswahnsinns oder der großen leidenschaftlichen Liebe.
Nicht einmal in Platons „Phaidros“?
Aber nein! Ich glaube nicht! Man müßte sich das näher ansehen, aber mir scheint, daß man es im Phaidros mit Leuten zu tun hat, die infolge einer Liebeserfahrung die gängige und beharrliche Tradition ihrer Epoche nicht beachten, die die Erotik in Umgangsformen des „Den-Hof -Machens“ begründete; mit Leuten, die die Tradition vernachlässigen, um einen Wissenstypus zu erreichen, der es ihnen einerseits ermöglichen wird, einander zu lieben, und andererseits im Hinblick auf das Gesetz und die Verpflichtungen, die den Bürgern auferlegt sind, die angemessene Haltung zu wahren.
Das Auftauchen des Liebeswahnsinns beginnt man bei Ovid in dem Moment zu sehen, wie sie die Möglichkeit und die Öffnung einer Erfahrung haben, in der das Individuum in gewisser Weise völlig den Kopf verliert, nicht mehr weiß, wer es ist, seine Identität nicht kennt und sein Verliebtsein wie eine fortwährende Selbstvergessenheit erlebt. Das ist eine späte Erfahrung, die absolut nicht der von Platon oder Aristoteles entspricht.
Ist die Rückkehr zu den Griechen nicht das Symptom einer Krise des Denkens, wie dies in der Renaissance im Augenblick der religiösen Spaltung der Fall sein konnte und später nach der Französischen Revolution?
Das ist sehr wahrscheinlich. Das Christentum hat lange Zeit eine bestimmte Form von Philosophie dargestellt. Dann hat es periodische Bemühungen gegeben, in der Antike eine Form des Denkens wiederzufinden, die nicht vom Christentum infiziert ist. In dieser regelmäßigen Rückkehr zu den Griechen gibt es mit Sicherheit eine Art Nostalgie, einen Versuch der Wiedererlangung einer originalen Form des Denkens und eine Anstrengung, die griechische Welt außerhalb der christlichen Phänomene zu fassen.
Im 16. Jahrhundert handelte es sich darum, durch das Christentum hindurch eine in gewisser Weise griechisch -christliche Philosophie wiederzufinden. Dieser Versuch hat von Hegel und Schelling an die Form einer Wiedergewinnung der Griechen außerhalb des Christentums angenommen - ich spreche hier vom frühen Hegel -, ein Versuch, den man erneut bei Nietzsche antrifft. Die Griechen wiederzudenken zu suchen, besteht heute nicht darin, die griechische Moral als den Moralbereich schlechthin auszuzeichnen, den man benötigen würde, um sich zu denken, sondern derart zu verfahren, daß das europäische Denken als einmal gegebene Erfahrung, dergegenüber man gänzlich frei sein kann, wieder in Gang kommen könnte.
Sie haben einen Berührungspunkt zwischen einer Freiheits und einer Wahrheitserfahrung gefunden. Es gibt zumindest einen Philosophen, für den das Verhältnis zwischen Freiheit und Wahrheit der Ausgangspunkt des westlichen Denkens gewesen ist. Heidegger, der von dort her die Möglichkeit eines ahistorischen Diskurses begründet. Wenn Sie früher Hegel und Marx in ihrer Schußlinie hatten, haben Sie hier nicht Heidegger im Visier gehabt?
Sicherlich. Heidegger ist für mich immer der maßgebliche Philosoph gewesen. Ich habe damit begonnen, daß ich Hegel, dann Marx las, und 1951 oder 1952 bin ich darangegangen, Heidegger zu lesen, und 1953 oder 1952, ich erinnere mich nicht mehr, habe ich Nietzsche gelesen. Ich habe noch die Aufzeichnungen hier, die ich zu dem Zeitpunkt, als ich Heidegger las, gemacht hatte - ich habe sie tonnenweise -, und sie sind ungleich gewichtiger als die über Hegel und Marx gemachten. Mein ganzes philosophisches Werden ist von meiner Lektüre Heideggers bestimmt worden. Aber ich erkenne, daß Nietzsche sich als stärker erwiesen hat. Ich kenne Heidegger nicht genügend, Sein und Zeit kenne ich praktisch nicht, auch nicht die kürzlich herausgegebenen Sachen.
Meine Kenntnis Nietsches ist wahrhaftig besser als die, die ich von Heidegger habe; dennoch bleibt es dabei, daß dies die beiden grundlegenden Erfahrungen sind, die ich gemacht habe. Es ist wahrscheinlich, daß ich Nietzsche nicht gelesen haben würde, hätte ich Heidegger nicht gelesen. Ich hatte in den fünfziger Jahren versucht, Nietzsche zu lesen, aber Nietzsche allein sagte mir nichts! Dagegen Nietzsche und Heidegger, das ist der philosophische Schock gewesen! Aber ich habe nie etwas über Heidegger geschrieben und über Nietzsche nur einen ganz kleinen Aufsatz2; trotzdem sind es die beiden Autoren, die ich am meisten gelesen habe. Ich glaube, daß es wichtig ist, eine kleine Zahl von Autoren zu haben, mit denen man denkt, mit denen man arbeitet, aber über die man nicht schreibt.
Vielleicht werde ich eines Tages über sie schreiben, aber in diesem Augenblick werden sie für mich keine Werkzeuge des Denkens mehr sein. Zu guter Letzt gibt es für mich drei Kategorien von Philosophen: die Philosophen, die ich nicht kenne, die Philosophen, die ich kenne und über die ich gesprochen habe; die Philosophen, die ich kenne und über die ich nicht spreche.
In der Einleitung von „Der Gebrauch der Lüste“ legen Sie das grundlegende Problem Ihrer Geschichte der Sexualität dar. Wie konstruieren sich Individuen als Subjekte des Begehrens und der Lust? Wie Sie sagen, ist es diese Frage des Subjekts, die Ihrer Arbeit einen neue Richtung gegeben hat. Nun scheinen Ihre früheren Bücher die Souveränität des Subjekts zu zersetzen; geschieht hier nicht die Rückkehr zu einer Frage, mit der man niemals zu Rande kommt und die für Sie die Verrichtung einer unendlichen Arbeit wäre?
Einer unendlichen Arbeit, das ist gewiß; das ist ganz genau das, worauf ich gestoßen bin und was ich habe machen wollen, denn mein Prolem bestand nicht darin, den Zeitpunkt, von dem an so etwas wie das Subjekt erschienen wäre, zu bestimmen, sondern eher die Gesamtheit der Prozesse, durch die das Subjekt mitsamt seinen verschiedenen Problemen und Hemmnissen und durch Formen hindurch existiert, die weit davon entfernt sind, abgeschlossen zu sein. Es handelte sich also darum, das Problem des Subjekts wiedereinzuführen, das ich in meinen ersten Studien mehr oder weniger beiseite gelassen hatte, und dabei zu versuchen, seinen Wegen oder Schwierigkeiten quer durch seine ganze Geschichte zu folgen.
Vielleicht gibt es einen kleinen Kunstgriff in der Art, die Dinge so darzustellen, aber was ich wirklich machen wollte, ist zu zeigen, wie das Problem des Subjekts nicht aufgehört hat, längs dieser Frage der Sexualität zu existieren, die in ihrer Verschiedenartigkeit nicht aufhört, auf das Problem des Subjekts zu treffen und es zu vervielfältigen.
Ist dieses Subjekt bei Ihnen Möglichkeitsbedingung einer Erfahrung?
Absolut nicht. Die Erfahrung ist die Rationalisierung eines selbst provisorischen Prozesses, der zu einem Subjekt oder vielmehr zu Subjekten führt. Subjektwerdung möchte ich den Prozeß nennen, durch den man die Konstitution eines Subjekts, genauer gesagt einer Subjektivität, erhält, die offensichtlich nur eine der gegebenen Möglichkeiten zur Organisierung eines Selbstbewußtseins ist.
Wenn man Sie liest, bleibt der Eindruck zurück, daß es bei den Griechen keine Theorie des Subjekts gegeben hat. Aber könnten sie nicht eine Definition des Subjekts aufgestellt haben, die sich mit dem Christentum verloren hätte?
Ich glaube nicht, daß es nötig ist, eine Erfahrung des Subjekts da wiederherzustellen, wo sie keine Formulierung gefunden hat. Ich bin viel näher an den Sachen dran. Und da kein griechischer Denker jemals auf eine Definition des Subjekts gekommen ist noch jemals nach einer gesucht hat, werde ich ganz einfach sagen, daß es kein Subjekt gibt. Was nicht heißen soll, daß die Griechen sich nicht bemüht hätten, die Bedingungen zu definieren, unter denen eine Erfahrung gegeben sein kann, die aber nicht die des Subjekts, sondern die des Individuums ist, in dem Maße, wie es sich als Herr seiner selbst zu konstituieren trachtet. In der klassischen Antike ist die Konstitution des Selbst als Subjekt nicht problematisiert worden; umgekehrt gab es seit dem Christentum eine Beschlagnahme der Moral durch die Subjekttheorie.
Nun scheint mir aber eine wesentlich auf des Subjekt zentrierte Moral heute nicht mehr zufriedenstellend zu sein. Und eben dadurch stellen sich uns eine bestimmte Zahl von Fragen in den gleichen Begriffen, in denen sie sich in der Antike stellten. Die Suche nach Existenzstilen, die so verschieden wie möglich sind, scheint mir einer der Punkte zu sein, durch die die zeitgenössische Suchbewegung in einzelnen Gruppen einst eingeleitet werden konnte. Die Suche nach einer Moralform, die für jeden akzeptabel wäre - in dem Sinn, daß jeder sich ihr unterwerfen müßte -, erscheint mir entsetzlich.
Aber es wäre ein Widersinn, eine moderne Moral auf der antiken begründen zu wollen, ohne sich mit der christlichen Moral zu beschäftigen. Wenn ich eine so lange Forschung unternommen habe, dann eben als Versuch, herauszuarbeiten, wie das, was wir die christliche Moral nennen, nicht erst seit den Anfängen des Christentums, sondern seit der antiken Moral in die europäische Moral eingelagert war.
1 Peter Brown: Die letzten Heiden . Eine kleine Geschichte der Spätantike. Cambridge/Massachusetts 1978, Berlin 1986
2 Vgl. M. Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: M. Foucault: Von der Subversion des Wissens. München 1974, S.83-109
Aus dem Französischen von Wilhelm Miklenitsch
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