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Der Zusammenbruch des Marxismus-Leninismus

Cornelius Castoriadis über die Umwertung der alten Werte  ■ D O K U M E N T A T I O N

Der Untergang des römischen Reiches dauerte drei Jahrhunderte. Ganze zwei Jahre genügten - und zwar ohne den Ansturm der Barbaren von außen -, um das internationale Machtgeflecht Moskaus unwiederbringlich zu zerstören, ebenso seine hegemonialen Absichten und die wirtschaftlichen, politischen, sozialen Beziehungen, die es zusammenhielten. Die Geschichte zeigt kein vergleichbares Beispiel für diese Auflösung einer noch gestern scheinbar stählernen Festung. Mit einemmal hat sich gezeigt, daß der Block nur mit Spucke zusammenhielt, und die Schrecken und Monströsitäten, die Lügen und Absurditäten, die jetzt jeden Tag enthüllt werden, sind noch unglaublicher, als auch die Skeptischsten unter uns geglaubt hätten.

Gemeinsam mit diesen Bolschewiki, für die es „keine uneinnehmbare Festung“ (Stalin) gab, löst sich auch der nebulöse „Marxismus-Leninismus“ in Rauch auf, der seit einem halben Jahrhundert fast überall die Rolle der dominierenden Ideologie gespielt hat. Die einen faszinierte er, die anderen mußten sich zu ihm verhalten. Was bleibt also vom Marxismus, der „nicht-überholbaren Philosophie unserer Zeit“ (Sartre)? Es braucht gar nicht erst betont werden, daß es nicht den geringsten Bezug gibt zwischen dem, was heute von Gorbatschow gesagt und getan wird, und der marxistisch -leninistischen „Ideologie“, ja mit überhaupt irgendeiner Idee.

Wie konnte diese historisch beispiellose Täuschung solange funktionieren? Die Antwort erscheint einfach für die Länder, wo der Marxismus-Leninismus an die Macht gelangt ist: Machthunger und Interessen der einen, Terror für die anderen. Aber das genügt nicht. Denn auch in diesen Fällen war die Machtergreifung fast immer mit einer wichtigen Mobilisierung des Volkes verbunden. Und außerdem ist damit nichts gesagt über seine nahezu universelle Anziehungskraft. Um zu antworten, müssen wir die Geschichte der letzten anderthalb Jahrhunderte betrachten. Es geht um zwei Momente. Zum einen trat der Marxismus-Leninismus als Fortsetzung und Vollendung des emanzipatorischen Projekts der westlichen demokratischen Revolutionen auf. Doch dahinter steht noch etwas anderes, worin seine historische Neuheit besteht: jene labyrinthenhafte „wissenschaftliche Theorie“ von Marx, die in der Lage war, ganze Heerscharen von Intellektuellen bis an ihr Lebensende zu beschäftigen; eine einfache Version für den Hausgebrauch (von Marx selbst noch entwickelt), mit der die einfachen Gläubigen sich ihren Reim auf die Welt machen konnten; und schließlich eine „Geheimversion“ für die wahrhaft Eingeweihten, die mit Lenin entstanden ist und aus der uneingeschränkten Macht der Partei das höchste Ziel und den archimedischen Punkt der „historischen Transformation“ macht.

Aber was das Bauwerk zusammenhält, sind weder die „Ideen“, noch die Argumentationen. Es ist eine neue Vorstellungswelt entstanden, die sich selbst in zwei Phasen ausbildete und veränderte. In der ersten „marxistischen“ Periode, wo sich der alte religiöse Glauben auflöste, war es die Vorstellung eines weltlichen Heils. Das Projekt Emanzipation, die Freiheit als Aktion, das Volk als Autor seiner eigenen Geschichte - all das wird zu einer messianischen Vorstellung eines gelobten Landes in Reichweite, die garantiert wird durch die „wissenschaftliche Theorie“, den Transzendenz -Ersatz jener Zeit.

In der folgenden, der leninistischen Phase wird dieses Element zunehmend durch ein zweites überdeckt: mehr noch als die „historischen Gesetze“ wird die Partei, ihr Chef, ihre Exekutivgewalt, kurz: die reine Machtgewalt, zum Garanten und außerdem zum letzten, faszinierenden Fluchtpunkt der gedanklichen Vorstellungen und Wünsche. Es handelt sich nicht um Furcht vor der Gewalt - wo der Kommunismus an der Macht war, war sie real und sehr groß -, sondern um die positive Anziehungskraft, die sie auf die Menschen ausübt. Wenn wir das nicht verstehen, werden wir die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht verstehen, weder den Nazismus, noch den Kommunismus.

Die Keimlinge der wichtigsten Marxschen Ideen zur Transformation der Gesellschaft - vor allem jene der Selbstverwaltung durch die Produzenten - finden sich nicht in den Schriften der utopischen Sozialisten, sondern in den Zeitschriften und Organisationen der englischen Arbeiter von 1810 bis 1840, längst vor den ersten Frühschriften Marx‘. Die entstehende Arbeiterbewegung erscheint wie die logische Fortsetzung einer auf halbem Wege stehengebliebenen demokratischen Bewegung. Aber zugleich betritt eine andere sozialgeschichtliche Vorstellungswelt die Bühne: die kapitalistische, die für jeden offensichtlich die soziale Wirklichkeit verändert und allem Anschein nach die Welt beherrschen möchte. Entgegen einem noch heute verbreiteten Vorurteil - auf dem der gegenwärtige „Liberalismus“ basiert

-steht das kapitalistische „Imaginäre“ in vollständigen Gegensatz zu dem Projekt von Emanzipation und Autonomie. Noch 1906 wies Max Weber auf die Absurdität der Idee hin, wonach der Kapitalismus etwas mit Demokratie zu tun hätte.

Es geht dem Kapitalismus darum, die Menschen als Produzenten und Konsumenten vollständig der „Entwicklung der Produktivkräfte“ zu unterwerfen. Die unbegrenzte Ausweitung der Herrschaft der Rationalität - wie man heute sieht: eine Pseudo-Herrschaft und Pseudo-Rationalität - wird das andere große Imaginäre der modernen Welt, kraftvoll vergegenständlicht in der Technik und der Organisation.

Es dauerte nicht lange, bis die kapitalistische Vorstellungswelt der technischen und organisatorischen Rationalität das emanzipatorische Projekt kontaminierte. Schon Saint-Simon ist sich der automatischen Fortschritts der Geschichte sicher. Aber erst Marx wird der Theoretiker und Hauptbaumeister sein, der die sozialistische und Arbeiterbewegung mit den Ideen des Zentralismus, der Technologie, der Produktion und Ökonomie durchsetzt. Durch seine nachträgliche Rückprojektion des kapitalistischen Geistes interpretiert Marx die gesamte Menschheitsgeschichte als die Folge der Entwicklung der Produktivkräfte, eine Entwicklung, die uns - falls es zu keiner Katastrophe kommt

-eine zukünftige Freiheit garantiert.

Die marxistische Doktrin hat zweifellos außerordentlich geholfen zu glauben - also zu kämpfen. Aber für diese Kämpfe, die die Lage der Arbeiter und auch den Kapitalismus verändert haben, war der Marxismus nicht die notwendige Bedingung, wie etwa die angelsächsischen Länder zeigen, wo der Marxismus wenig Fuß gefaßt hat. Und der gezahlte Preis war sehr hoch.

Wenn diese merkwürdige Alchimie aus „ökonomischer“ Wissenschaft, einer rationalistischen Metaphysik der Geschichte und einer weltlichen Eschatologie eine derart lange Zeit bestehen und eine so große Ausstrahlung ausüben konnte, dann nur, weil er Antwort gab auf den Drang nach Gewißheit und auf die Hoffung, in all der Zerbrechlichkeit und Unsicherheit einen festen Halt zu bekommen: die Gesetze der Geschichte .

Parallel zu der unbezwingbaren Tendenz moderner Gesellschaft hin zur Bürokratisierung, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in die Arbeiterbewegung eindringt und sie dominiert, führt die Orthodoxie maßgeblich zur Entstehung von Partei-Kirchen. Sie führt auch zu einer fast vollständigen Abtötung des Denkens. Die revolutionäre Theorie wird zum talmudischen Kommentar der heiligen Texte, während der Marxismus gegenüber den immensen wissenschaftlichen, kulturellen und künstlerischen Umwälzungen seit 1890 entweder stumm bleibt oder sie als Produkte bürgerlicher Dekadenz abtut. Ein Text von Lukacs und einige Sätze von Trotzki und Gramsci genügen nicht, um diese Diagnose zu entkräften.

Cornelius Castoriadis

Der Autor ist Soziologe, Psychoanalytiker und Philosoph. Er gründete gemeinsam mit Jean-Fran?ois Lyotard die Zeitschrift 'Sozialismus oder Barbarei‘. Der folgende Text ist sehr stark gekürzt und erschien in zwei Teilen in 'Le Monde‘ am 24. Und 25. April 1990.

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