: „Großartige Welt - elende Nichtigkeit“
■ „Lyrik meets Underground“: Performance der neuen Lagerhaus-Kulturgruppe mit Malerei, Musik, Wort, Film
„Bist du müde?“ „Nein, ich bin tot!“ High moon nach viereinhalb Stunden Performance über die Deformation des Menschen vor dem Hintergrund der Agonie der Städtey: seine selbstzerstörerische Energie bloßzulegen, war der Kernpunkt von Lyric meets Underground.
Die künstlerische Umsetzung wies an diesem Abend nur in eine Richtung: „Zeig meine Wunden!“ oder „Die Angst der Männer... vor dem Untergang der eigenen kaputten Identität und Kultur...“. Diese betitelte Bildtrilogie in satten Ölfarben von Abraxus Löwenthau veranschaulichte den Konflikt des Menschen mit sich selbst und seiner Umwelt - die daraus resultierende Gewalt löst Gegenkräfte/Gegengewalt aus („Disput mit dem König„/„Blicke“).
Die drei Videofilme (1. ILLEGAL TENDER, Engl. 1986/87 von Paul Bettell; 2. OSTIA, Engl. 1986/87 von Julian Cole; und 3. THE DREAM MACHINE, Engl. 1984 von Derek Jarman) versinnbildlichten Angst, Verzweiflung, Paranoia, Gewalt und Chaos in einer schonungslosen Art. Insbesondere The Dream Machine schreckte vor perversen Szenen, wie sie in bestimmten Horrorfil
men üblich sind, nicht zurück: zerfetzte Gedärme, Säuglingsverstümmelung, Folter.
Die Post-Punk-Band Test Department und ähnliche neubauten- artige Gruppen packten diese homoerotischen und zugleich sehr depressiven Stimmungen in rhythmisches Fruchtfleisch. Erste Ermüdungserscheinungen machten sich breit, als die Bremer Band Hungarab, die zweimal auftrat, ähnlich düstere Gefühle beim Publikum hervorzurufen schien. „Großartige Welt/elende Nichtigkeit“, die Texte von Felix Esterhazy vermischten sich bedrohlich mit den Beats der Maschinen-Maschinen: Die Menschmaschine als dressiertes Wesen kämpft gegen die Hölle des Systems. Carmen Rita Maria verkörperte in zwei Tanzauftritten dieses leblose Wesen, als wär‘ ihr die Rolle auf den Leib geschrieben.
Beim „Versuch eines Vortrages von Auswendiggelerntem“ löste sich die Spannung im Raum. Michael Pundt trug vier Gedichte von Erich Mühsam vor, dessen „Revoluzzer“ mühelos mit drei Kurzgeschichten von Elias Canetti korrespondierte. Ganz anders wirkte das Vorlesen vom angeblichen Szenenkenner Fesi Fe
senfeld, dessen eigene Texte über das Viertel originell und witzig waren (stürmischer Applaus). Die traurige Liebesgeschichte von Charles Bukowski hätte allerdings jemand anderes vortragen sollen, so nachgemacht und wenig authentisch klang das. Zuvor
spielte Hans König, bekannt als Schauspieler und Autor beim theatre du pain, auf der Gitarre „Kleine Geschichte in Liedern“, die teilweise Nicole-meets-Frank Zander-mäßig daherkamen. Zehn Jahre alte Stücke klingen manchmal so pathetisch. Alles in
allem war es eine gelungene Improvisation. Das Programm wirkte aber zu sehr gedehnt und verlangte vom Publikum konzentrierte Aufmerksamkeit und erhöhte Kondition bei gleichzeitig sinkendem Wachheitsgrad. Christian Noffk
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