: 100 Jahre - wo bleibt die Klasse?
■ Gewerkschafter aus beiden deutschen Staaten werden den diesjährigen hundertsten internationalen Tag der Arbeit gemeinsam feiern. Vor dem Berliner Reichstag werden morgen 100.000 Teilnehmer zur ersten Gesamtberliner Maidemo seit 1946 erwartet. Während im Ostteil der Stadt am 1. Mai bislang martialische Aufmärsche der Arbeiterklasse das Bild beherrschten, veranstalteten die westlichen Gewerkschaften jahrzehntelang Freiheitskundgebungen. Zum hundertsten Geburtstag des DGB im nächsten Jahr, so heißt es in denwestdeutschen Gewerkschaftszentralen, soll es bereits eine einige gesamtdeutsche Gewerkschaftsbewegung geben. Aber ob es so schnell geht, ist durchaus fraglich. Denn die bundesdeutschen Gewerkschaften verfolgen mit dem Vereinigungsprozeß sehr unterschiedliche Ziele. Zwar steuern fast alle Einzelgewerkschaften (West) sehr direkt die Fusion mit den Partnergewerk
2TAGESTHEMAMONTAG, 30/4/90 KARI MIT LITFASSSÄULE
Reproduktion: Paul Glaser
Hans-Jürgen Krusch und Dieter Klemm werden selbst nicht mehr verwirklichen können, was sie sich zum 100. Jahrestag des 1. Mai gewünscht hatten: öffentliche Veranstaltungen und Volksfeste in den Gewerkschaftshäusern statt martialischer Aufmärsche der „Arbeiterklasse“ als öffentliche Bekundungen der reformierten Gewerkschaften in der DDR. Bis vor kurzem waren sie noch Geschäftsführer des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) in Dresden und Karl-Marx-Stadt. Inzwischen sind sie von ihren Posten enthoben. Sie sind nicht der Wende zum Opfer gefallen, sondern dem Umstand, daß sie sich für eine radikalere Wende im gewerkschaftlichen Dachverband der DDR eingesetzt haben.
„Mit großer Sorge“, so hatten sie gemeinsam mit ihrem Kollegen Günter Blum aus Leipzig am 17. April in einem Brief an die FDGB-Vorsitzende Helga Mausch geschrieben, „verfolgen wir seit geraumer Zeit Aktivitäten und Äußerungen aus den Reihen des geschäftsführenden Vorstandes“. Verschiedene Äußerungen der FDGB-Vorsitzenden, das Auftreten des PDS -Vorsitzenden Gregor Gysi auf der gewerkschaftlichen Protestkundgebung am 5. April, das Festhalten an dem noch von der alten Volkskammer beschlossenen Gewerkschaftsgesetz
-all das habe zu dem Vorwurf an die Ostberliner Gewerkschaftsführung geführt, „sich in alten Denkschablonen zu bewegen“. Die drei Funktionäre aus dem Süden vermißten außerdem „ein eindeutiges Bekenntnis zu freien und unabhängigen Gewerkschaften und für eine gemeinsame Arbeit mit dem DGB“. Sie fanden es deshalb zwar bedauerlich, aber auch verständlich, „daß der DGB uns nur sehr zögerlich seine helfende Hand entgegenstreckt“.
In der Tat - der DGB hatte sich in seinem Vorgehen gegenüber den Gewerkschaften in der DDR zwar nie präzise festgelegt, aber dennoch hat in den letzten Monaten einen deutlichen Schwenk vollzogen: von der begrenzten Kooperation mit dem FDGB zur Abgrenzung. Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund in der DDR, Jahrzehntelang „Transmissionsriemen“ der Parteiherrschaft und Bestandteil des betrieblichen Herrschaftssystems, gilt inzwischen als hoffnungslos diskreditiert und letztlich unfähig zur Erneuerung. Der Wiederaufbau der Gewerkschaftsbewegung in der DDR wird sich, das ist inzwischen bei den westdeutschen Gewerkschaften übereinstimmende Auffassung, über die Einzelgewerkschaften vollziehen.
Mehr als neun Millionen Mitglieder hatte der FDGB vor der Wende. Und obwohl auch er unter seiner neuen Führung „Erneuerung“ für sich in Anspruch nimmt, steht zu erwarten, daß er bald gar keine mehr hat. Auf seinem letzten Kongreß hat sich der FDGB von einer einheitlichen Mitgliedergewerkschaft, in der die Branchengewerkschaften als untergeordnete Abteilungen gearbeitet haben, zu einem Dachverband von autonomen Branchengewerkschaften - sechzehn hat er jetzt - analog zum DGB verwandelt. Damit entfällt ab 1.4. die bisher praktizierte direkte Betragskassierung bei den Mitgliedern. Analog zum DGB lebt der FDGB seit Anfang April von den Zuwendungen der 16 Einzelgewerkschaften, die einen bestimmten Teil ihres Beitragsaufkommens an die Dachorganisation überweisen.
Nicht mehr lange. Denn die inzwischen selbständigen Einzelgewerkschaften in der DDR haben sich, meist unter neuer Führung, fast alle darauf festgelegt, die Fusion mit ihren westdeutschen Partnerorganisationen anzustreben. Damit würden sie automatisch unter das Dach des DGB schlüpfen. Der FDGB würde auf diese Weise sehr schnell zu einem Verein ohne Mitglieder, politisch und finanziell trockengelegt. Offen bleibt bei dieser Strategie einzig, auf welche Weise die umfangreichen Vermögenswerte und der weitverzweigte Apparat des FDGB in den Besitz des DGB überführt werden können.
Unterschiedliche
Strategien
Hans-Jürgen Krusch und Dieter Klemm werden selbst nicht mehr verwirklichen können, was sie sich zum 100. Jahrestag des 1. Mai gewünscht hatten: öffentliche Veranstaltungen und Volksfeste in den Gewerkschaftshäusern statt martialischer Aufmärsche der „Arbeiterklasse“ als öffentliche Bekundungen der reformierten Gewerkschaften in der DDR. Bis vor kurzem waren sie noch Geschäftsführer des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) in Dresden und Karl-Marx-Stadt. Inzwischen sind sie von ihren Posten enthoben. Sie sind nicht der Wende zum Opfer gefallen, sondern dem Umstand, daß sie sich für eine radikalere Wende im gewerkschaftlichen Dachverband der DDR eingesetzt haben.
„Mit großer Sorge“, so hatten sie gemeinsam mit ihrem Kollegen Günter Blum aus Leipzig am 17. April in einem Brief an die FDGB-Vorsitzende Helga Mausch geschrieben, „verfolgen wir seit geraumer Zeit Aktivitäten und Äußerungen aus den Reihen des geschäftsführenden Vorstandes“. Verschiedene Äußerungen der FDGB-Vorsitzenden, das Auftreten des PDS -Vorsitzenden Gregor Gysi auf der gewerkschaftlichen Protestkundgebung am 5. April, das Festhalten an dem noch von der alten Volkskammer beschlossenen Gewerkschaftsgesetz
-all das habe zu dem Vorwurf an die Ostberliner Gewerkschaftsführung geführt, „sich in alten Denkschablonen zu bewegen“. Die drei Funktionäre aus dem Süden vermißten außerdem „ein eindeutiges Bekenntnis zu freien und unabhängigen Gewerkschaften und für eine gemeinsame Arbeit mit dem DGB“. Sie fanden es deshalb zwar bedauerlich, aber auch verständlich, „daß der DGB uns nur sehr zögerlich seine helfende Hand entgegenstreckt“.
In der Tat - der DGB hatte sich in seinem Vorgehen gegenüber den Gewerkschaften in der DDR zwar nie präzise festgelegt, aber dennoch hat in den letzten Monaten einen deutlichen Schwenk vollzogen: von der begrenzten Kooperation mit dem FDGB zur Abgrenzung. Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund in der DDR, Jahrzehntelang „Transmissionsriemen“ der Parteiherrschaft und Bestandteil des betrieblichen Herrschaftssystems, gilt inzwischen als hoffnungslos diskreditiert und letztlich unfähig zur Erneuerung. Der Wiederaufbau der Gewerkschaftsbewegung in der DDR wird sich, das ist inzwischen bei den westdeutschen Gewerkschaften übereinstimmende Auffassung, über die Einzelgewerkschaften vollziehen.
Mehr als neun Millionen Mitglieder hatte der FDGB vor der Wende. Und obwohl auch er unter seiner neuen Führung „Erneuerung“ für sich in Anspruch nimmt, steht zu erwarten, daß er bald gar keine mehr hat. Auf seinem letzten Kongreß hat sich der FDGB von einer einheitlichen Mitgliedergewerkschaft, in der die Branchengewerkschaften als untergeordnete Abteilungen gearbeitet haben, zu einem Dachverband von autonomen Branchengewerkschaften - sechzehn hat er jetzt - analog zum DGB verwandelt. Damit entfällt ab 1.4. die bisher praktizierte direkte Betragskassierung bei den Mitgliedern. Analog zum DGB lebt der FDGB seit Anfang April von den Zuwendungen der 16 Einzelgewerkschaften, die einen bestimmten Teil ihres Beitragsaufkommens an die Dachorganisation überweisen.
Nicht mehr lange. Denn die inzwischen selbständigen Einzelgewerkschaften in der DDR haben sich, meist unter neuer Führung, fast alle darauf festgelegt, die Fusion mit ihren westdeutschen Partnerorganisationen anzustreben. Damit würden sie automatisch unter das Dach des DGB schlüpfen. Der FDGB würde auf diese Weise sehr schnell zu einem Verein ohne Mitglieder, politisch und finanziell trockengelegt. Offen bleibt bei dieser Strategie einzig, auf welche Weise die umfangreichen Vermögenswerte und der weitverzweigte Apparat des FDGB in den Besitz des DGB überführt werden können.
Unterschiedliche
Strategien
Zum hundertsten Geburtstag des DGB im nächsten Jahr, so heißt es in den westdeutschen Gewerkschaftszentralen, soll es bereits eine einige gesamtdeutsche Gewerkschaftsbewegung geben. Aber ob es so schnell geht, ist durchaus fraglich. Denn die bundesdeutschen Gewerkschaften verfolgen mit dem Vereinigungsprozeß sehr unterschiedliche Ziele. Zwar steuern fast alle Einzelgewerkschaften (West) sehr direkt die Fusion mit den Partnergewerkschaften (Ost) an, weil eine einheitliche gewerkschaftliche Interessenvertretung in Gesamtdeutschland für beide Teile unbedingt notwendig sei. Aber während beispielsweise die IG Druck und Papier (West) keinerlei Berührungsängste gegenüber dem alten Apparat der DDR-Gewerkschaften hat, gibt es in anderen Gewerkschaften erhebliche Bedenken gegenüber einer Vereinigung vor einer deutlichen politischen und personellen Erneuerung.
Franz Steinkühler von der IG Metall fordert die Erneuerung der Gewerkschaften „von unten“, aus den Betrieben. An der Spitze des hauptamtlichen IG-Metall-Apparats (Ost) hat sich zwar der Reformer Hartwig Bugiel in einer Kampfabstimmung durchgesetzt. Aber die Gegenkandidatur einer FDGB-Kandidatin wurde allgemein als deutliches Zeichen gewertet, daß die alten Strukturen nicht nur im Dachverband FDGB, sondern auch in den Apparaten der inzwischen selbständigen Einzelgewerkschaften noch lebendig sind.
Der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Chemie, Papier, Keramik, Hermann Rappe, sieht derartige Probleme nicht. Seit November amtiert in der DDR-IG-Chemie mit Harmut Löschner ein neuer Vorsitzender, im Gegensatz zu Rappe parteilos, aber - so betonten beide auf einer Pressekonferenz in der letzten Woche in Berlin - in den grundsätzlichen gewerkschaftspolitischen Fragen einig mit dem SPD -Bundestagsabgeordneten. Die IG Chemie hat, wie in anderen politischen Fragen auch, in den vergangenen Wochen Vereinbarungen mit den westlichen Arbeitgeberverbänden über gemeinsame Grundsätze beim Vorgehen in der DDR getroffen. Mit dem Bundesarbeitgeberverband Chemie einigte man sich im März auf gegenseitige Informationen, auf die Gründung von Arbeitskreisen zu „DDR-Fragen“ und schließlich ein „Bekenntnis zum besonderen System der Chemie -Sozialpartnerschaft in der Bundesrepublik“.
Am schwierigsten wird sich der gewerkschaftliche Vereinigungsprozeß aller Voraussicht nach im Bereich des Öffentlichen Dienstes gestalten - nicht nur, weil auch der Stasi mit allen seinen Verästelungen darunterfällt, sondern weil unter zwei westlichen Einzelgewerkschaften ein heftiger Streit über die Organisationsabgrenzung ausgebrochen ist. Es sei bedauerlich, so erklärte die ÖTV am 10. April in einer wütenden Presseerklärung, daß sich die DGB-Gewerkschaft IG Bergbau und Energie, zum Sprachrohr einer FDGB-Gewerkschaft machen lasse, die erkennbar an den alten Strukturen festhalte.
Mit diesem massiven Vorwurf konterte die ÖTV ein Telegramm der IG Bergbau-Energie und Wasserwirtschaft (DDR), die die ÖTV beschuldigt hatte, in fremden Revieren zu wildern. Die DDR-Gewerkschaft organisiert nämlich auch die Bereiche Energie und Wasserwirtschaft, die in der BRD zum Organisationsbereich der ÖTV gehören, aber schon seit langem von der IG Bergbau (West) beansprucht werden. Die Bochumer Kumpelgewerkschaft dagegen, traditionell antikommunistisch, sieht in einer schnellen Vereinigung mit der DDR -Schwesterorganisation die Chance, auf einen Schlag ihren Zuständigkeitsbereich auszuweiten und die Mitgliederzahl mehr als zu verdoppeln.
Martin Kempe
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