: Lettland vor der Unabhängigkeit?
■ Das lettische Parlament entscheidet über die Unabhängigkeit / Opposition der pro-sowjetischen Interfront
Moskau/Riga (afp) - Nach Litauen und Estland wird ab Donnerstag auch Lettlands Parlament über die Unabhängigkeit entscheiden. Die Bevölkerungsstruktur Lettlands macht im Gegensatz zu der Litauens allerdings den Entscheid für eine radikale Loslösung von der UdSSR unwahrscheinlich.
Von den 2,6 Millionen Einwohnern sind nur 55% Letten. 33% sind Russen, 5% Weißrussen, 3% Ukrainer und 3% Polen. Trotz der zu erwartenden Opposition eines Teils dieser Minderheiten sei es nicht ausgeschlossen, daß die Resolution des lettischen Parlamentes ebenso radikal ausfalle, wie die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Obersten Sowjets von Litauen, erkärte ein Sprecher der lettischen Volksfront am Mittwoch in Riga. Die lettische Volksfront sei jedenfalls entschlossen, der Republik wieder unabhängige Verfassungsorgane zu geben.
Lettland war 1922 bis 1940 unabhängig, bis es, ebenso wie Litauen und Estland, nach dem zweiten geheimen Zusatzabkommen des Hitler-Stalin-Paktes von der Sowjetunion annektiert wurde. 131 der 199 Mitglieder des Parlaments in Riga (zwei weitere Abgeordnete müssen noch gewählt werden) sind Mitglieder der für die Unabhängigkeit eintretenden Volksfront, etwa ein Dutzend gelten als Sympathisanten. 60 sind Anhänger der Interfront, die für den Verbleib in der UdSSR eintritt.
Eine radikale Loslösung von der Sowjetunion propagiert vor allem der am Wochenende gegründete „Bürgerkongreß“, der sich als rechtmäßige Volksvertretung in Lettland betrachtet. Die 260 Delegierten dieses „Schattenparlaments“, das in ähnlicher Form auch in den beiden baltischen Nachbarrepubliken existiert, vertreten die Bevölkerungsgruppen, die vor der Annexion der Republik durch Stalin im Jahre 1940 die lettische Staatsangehörigkeit besaßen, sowie deren Nachkommen. Sie hatten bei ihrer Versammlung in Riga in der Nacht zum Dienstag in einer Resolution erklärt, der Bürgerkongreß sei zu „internationalen konstruktiven Verhandlungen über den Rückzug der bewaffneten sowjetischen Truppen aus Lettland und Wahlen für ein rechtmäßiges Parlament“ bereit.
Für den Präsidenten der moskautreuen Interfront, Anatoli Alexejew, kann dagegen nur der von der sowjetischen Führung vorgesehen Weg eines Referendums über die Zukunft Lettlands entscheiden. Hierbei würden nach Alexejews Meinung die Gegner einer Abspaltung von der UdSSR mit Sicherheit die Mehrheit gewinnen.
In Litauen hat Präsident Landsbergis Kohl und Mitterrand um Vermittlerdienste gebeten. Sie sollten der Sowjetunion mitteilen, daß Litauen damit einverstanden sei, die Folgen der Gesetzgebungsakte einzufrieren, die es nach der Proklamation seiner Unabhängigkeit erlassen habe. Die Unabhängigkeitserklärung selbst bleibe allerdings nicht verhandelbar.
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