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In Espenhain gehen die Öfen aus

■ Wer kümmert sich um die rund 6.000 Belegschafter? / Direktor Dr. Wieland Schütter: Erstmals in der Welt, daß so eine große Umstellung zusammenfällt mit der kompletten Umgestaltung des Wirtschaftssystems

Leipzig (taz) - Im Übertragenen Sinn ist der Ofen in Espenhain schon aus. Obwohl über 20 der 30 Schwelöfen noch gefahren werden, bleibt die Entscheidung endgültig: Die „größte Dreckschleuder Europas“, wie oft gesagt wird, macht dicht. Im Herbst läuft Ofenhaus I mit 12 Öfen aus, im Herbst '91 der Rest. Auch der kleinere Betriebsteil in Böhlen macht bis dahin dicht. Teer und Öle aus minderwertiger Braunkohle

-das hat es ohnehin in der Welt nicht nochmal gegeben.

Ausbaden müssen das nun die Belegschafter, rund 6.000 im Gesamtbetrieb. Vorerst geht's nur um die Schwelerei, das heißt um 520 Leute, überwiegend Chemiefacharbeiter, die dadurch ihre Arbeit verlieren.

Schlechte Perspektiven

„Perspektive?“ poltert Hans Neumann im Ofenhaus I, „wo soll die herkommen? Von einem Berufsangebot wird bisher nur geredet. Im Herbst gehen wir erst mal ins andere Ofenhaus. Bis zum letzten Tag werden ja Fachleute gebraucht. Und danach?“ Er zuckt die Schultern. „Wenn hier demontiert wird, wären eigentlich ein paar Fachleute von uns nötig. Sonst gibt's beim ersten Versuch, eine Leitung aufzuschweißen, eine Explosion, durch die sich die ganze Demontage erledigt.“ Währungumstellung? Wie werden unsere Abfindungen umgestellt, fragen sich die Espenhainer. Bei 1:1 sind die Abfindungen nichts mehr wert.

Abfindungen. Genau das sollten diese Summen nicht sein. Man hatte von der Leitung wert darauf gelegt, daß die Summe für die Espenhainer so hoch ist, um ihnen einen neuen Start zu ermöglichen. Die Kollegen sehen das offensichtlich anders.

Sie wissen, daß im Personalbereich Listen entstehen, auf denen jeder seinen Platz hat. Weil aber bisher die Listen nicht für jeden zugänglich sind, kommt die alte Ohnmacht hoch, die sich mit dem Begriff Stasi verbindet.

Personallisten

sammeln Daten

In den Listen sind Qualifikationen enthalten, besondere Kennzeichen der Kollegen, die Wohnorte. Alles, um kompetent entscheiden zu können, wo einer künftig Arbeit finden könnte. Da wird keiner diskriminiert oder „verschachert“. Aber die Espenhainer sind mißtrauisch geworden. Warum können sie die Listen nicht sehen?

Kurt Tepper, Mitarbeiter der Personalabteilung, außerdem Mitglied eines Konsultationsstützpunktes, den jeder aufsuchen kann, wenn seine Sorge gar zu groß wird, erklärt: „Es hat keinen Sinn, Ängste und Hoffnungen zu verbreiten, wo nichts klar ist. Deshalb nehmen wir nicht vor Mai die Listen durch, die solche Kollegen betreffen, die uns im III. Quartal verlassen müssen. Es gibt zwar Abkommen mit einer ganzen Reihe Betriebe, die uns Leute abnehmen wollen. Aber man möchte doch größere Sicherheit haben, daß die Sache auch klappt.“

Mancher geht jetzt schon auf eigene Faust auf Arbeitssuche. Schwelereidirektor Rudi Wenzel dazu: „Wer kündigt, kriegt natürlich kein Überbrückungsgeld!“

Ein hartes, klares Wort: Bis zum endgültigen Abfahren werden eingefuchste Leute gebraucht, die hält man mit allen Mitteln. Die können sich auch dann keine Perspektive suchen, wenn sie im Betrieb mit Sicherheit keine mehr haben. Da im ganzen Revier anzunehmen ist, daß Chemiearbeiter und Kohlekumpel auf der Straße stehen werden, sind die Belegschafter relativ leicht erpreßbar.

Keine Garantien für

die Belegschaft

Bislang wurde Sicherheit für die anderen versprochen, obwohl erfahrene Kraftwerker und „Brikettbäcker“ schon lange meinten, ihr Gewerbe habe im derzeitigen verschlissenen Betrieb ebenfalls keine Aussichen. Kurz vor Ostern legte Betriebsdirektor Dr. Wieland Schütter auf einem Forum die Karten auf den Tisch: „Ein großer Teil der Brikettfabriken muß abgefahren werden. Die Kraftwerke werden wohl bald folgen. Aber dafür werden Nachfolger gebraucht, also auch Chancen für die Belegschaft. Keine Garantien natürlich.“

Ungewißheiten gibt es noch jede Menge. Ein Baubetrieb soll entstehen. Aber ob dort mehr Leute Arbeit finden, als in der Bauabteilöung des derzeitigen Betriebes, ist unklar.

Ein Fertigungsbetrieb für Umwelttechnik ist ebenfalls fest geplant. Aber mit dem in Aussicht genommen Partner - PKM Anlagenbau Leipzig - bestehen erhebliche Diffenzen.

Was wird mit den Hoch- und Fachschulkadern? Sie sind nicht überqualifiziert, aber falsch ausgebildet. Werner Mennicke, Leiter vom Büro des Betriebsdirektors, hofft auf die entstehenden mittelständischen Unternehmen: „Da werden doch auch Steuerberatungsfirmen entstehen oder Versicherungsgesellschaften.

Im Grunde muß man den Hut vor jenen ziehen, die die Last auf sich nehmen, den Betrieb, der völlig auf Grund gesetzt wurde, aus der rettungslosen Lage herauszumanövrieren, Rettungsboote auszubringen und Flöße bauen zu lassen.

Betriebsdirektor Dr. Schütter hat sicherlich recht, wenn er sagt: „Das hat es noch nie in der Welt gegeben, daß so ein großes Unternehmen umgestellt werden muß zu einer Zeit, in der das komplette Wirtschaftssystem des Landes verändert wird. Man kann das nicht einfach mit der Ruhrkohle vergleichen. Und selbst die hat mehr Zeit gehabt!“

Der zu seiner eigenen Überraschung Ende März neugewählte BGL-Vorsitzende Bernd Lohse hatte an Verhandlungen in Berlin teilgenommen und zusammengefaßt: „In den Ministerien herrschte ein desolater Zustand, bis Ostern komplettes Desinteresse.“

Immerhin haben sie - staatliche Leitung und Gewerkschaft mit Unterstützung ihrer Industriegewerkschaft erreicht, daß für die Belegschaft des BVE Espenhain die landesweite Regelung zum Vorruhestand von fünf auf zehn Jahre erhöht wurde. Ein ganzer Teil der Belegschaft weiß so weinigstens, wenn wirklich nichts gefunden wird, geht's nicht ins soziale Abseits.

Viele interessiert nicht nur das ganz ureigene Befinden, sondern auch: Was wird aus Ferienheimen, Kulturhaus, Sportanlagen, aus dem billigen Betriebsessen?

Der Direktor verspricht auch, mögliche Neuregelungen nicht allein zu treffen, sondern immer mit BGL und Betriebsräten zusammen, eventuell nach einer Urabstimmung der Belegschaft.

Über allen Zusicherungen und kleinen Hoffnungen bleibt aber die große Ungewißheit für alle: Keiner kann garantieren, daß mit der Währungsumstellung der Betrieb nicht schon dieses Jahr zahlungsunfähig wird und schließen muß. Die Folgen wären über Espenhain hinaus verheerend. In den Abnehmerbetrieben der Karbochemie sind Tausende beschäftigt. Sie verarbeiten Zwischenprodukte aus Espenhain, die es nirgendwo auf dem Weltmarkt gibt. Wenn Espenhain vorschnell abschalten muß, dann liegen wahrscheinlich mehr als 10.000 Leute auf der Straße.

Das spiegelt sich in der Stimmung wider, die man unter den Leuten in Espenhain antrifft. Da werden ehemalige SED -Mitglieder ebenso wie heutige PDS-Mitglieder persönlich verantwortlich gemacht. Da werden Leitern Versuche angelastet, die früher gefahren wurden, um die Wirkung der Schwelöfen zu erhöhen: Es habe viel gekostet aber nichts eingebracht. Mißgunst, manchmal sogar Haß sitzen mit am Tisch, wenn die Belegschaft zusammenkommt. Und mancher murrt und knurrt auch hoch zu den schwarz-rot-goldenen Fahnen, die hier und da im Werk wehen.

Wenn man wegen der steten Staubwolken im Betriebsgelände die Augen zusammenkneifen muß oder Zahlen über die Gesundheitsschäden im Werk oder in der Gemeinde Mölbis, östlich vom Werk, liest, kommt man zu der bedrückenden Einsicht: Trotzdem gut, wenn hier die Öfen ausgehen.

Thomas Biskupek

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