Neue Musik gemäß Seeschiffahrts-StVO

■ Zu Lande und zu Wasser: Radio Bremens Avantgarde-Festival „Pro Musica Nova '90“ beginnt nächste Woche

Die 16. „Pro Musica Nova“, seit 1961 von Radio Bremen alternierend mit der „Pro Musica Antiqua“ veranstaltet und weltweit beachtet, beginnt in diesem Jahr am 10.Mai mit einem Absturz: Pegasos, ein vielfältig umgebauter, werftmäßig kalfaterter Konzertflügel, wird nach einem Flug über den Bremer Alltagsverkehr aus der Höhe eines Kranwagens in die Weser stürzen, dort vor Anker gehen und in den Weserterrassen und drumherum lauter musikalische und andere künstlerische Aktivitäten auslösen.

Entsprechend den Vorschriften der Seeschiffahrtsstraßenordnung setzt Pegasos nächtens ein Ankerlicht.

Verantwortlich für das die Musica Nova umklammernde Szenario ist der Bremer Konzertveranstalter („dacapo“) und Pianist Ingo Ahmels, dem Analogien zwischen dem Schicksal des geflügelten Pferdes - es stürzte aus olympischen Höhen in die „bleierne Flut“ der Unterwelt - und den Menschen an der schwermetallbefrachteten Weser aufgefallen waren. Das Szenario an der Weser und in den Weserterrassen nennt Ahmels „Pegasos‘ Idyll“: ein multimediales Ereignis mit konzertanter Musik, Klanginstal

lation, Malerei, Plastik, Objektkunst sowie Computer-und Videotechnik. In Pegasos eingebaute Mikrofone übertragen Wesergeräusche ins Bürgerhaus.

Nach „Flug“ und „Idyll“ träumt der dahinsterbende Pegasos Musik; Toni Sellers (Sopran), Willy Daum (Multiinstrumentalist), Matthias Kaul (Stimme und Schlagzeug), Michael Svoboda (Alphorn, Posaune, Bänder) und

Johannes Harneit (Arr. und Klavier) erzeugen in „Pegasos Traum“ eine Musikflut mit Bach, Berg, Cage, Nono, Schubert, Webern u.a. Dabei verhalten sich die Ensemblemitglieder relativ frei in sog. „Kontaminaten“, die „knapp, unvermittelt und neurotisch“ sein und sich an der Symptomatik einer Schwermetallvergiftung orientieren sollen (Stammeln, Zitterschritt, Durch

fall, Maskengesicht etc.).

Schwerpunkt der diesjährigen Nova ist die menschliche Stimme. Das Konzertprogramm von Radio Bremen präsentiert eine ganze Reihe internationaler Highlights der Neuen Musik an verschiedenen Spielorten. Von zwölf Aufführungen sind elf Uraufführungen. Erwähnt seien das Ensemble Avance aus Köln, führende Formation für Neue Musik, mit vier Uraufführungen für Stimme und Sprache; eine „Kammeroper“ von Luc Ferrari, der Versuch einer „Revisualisierung“ eines Musikfeatures um einen Mann und eine Frau im Hotel; und die „Nacht der Stimmen“ mit Greetje Bijma (NL) und Jeanne Lee (USA), Vertreterinnen des Jazz und der Neuen Musik, und der Diabate-Familie (Guinea) und Rama Mani (Indien), hochvirtuosen Traditions-Vokalistinnen. Nach den Einzelsets wird ein gemeinsamer Auftritt versucht werden.

Für das Abschlußkonzert wurde das Radio-Sinfonieorchster des Hessischen Rundfunks eingeladen, das mit mehreren Rosinen aufwartet: „The Seasons“ von John Cage z.B., von 1947, klingt ungewohnt nach Webern oder Debussy; für Christian Wolff's „Burdocks„ (1971) brauchten die

Musiker Nachhilfe im Lesen der Partitur, die sich wie ein grafisches Kunstwerk ausnimmt; und der Engländer Chris Newman, Tänzer zwischen E- und U-Musik, führt „The Sea, the Sea!„ für Frauenchor und Orchester urauf.

Pro Musica Nova '90: die Neue Musik stellt sich ganz unhermetisch vor, knüpft Beziehungen zu Klassik, Rock und der Umwelt, verpackt sich multimedial und wird Ereignis. Zu hoffen bleibt, daß auch künftig Radio Bremen hier nicht spart.

Burkhard Straßman