: Sowjetische Juden in die BRD?
■ Frankfurter Tagung zum Antisemitismus in der UdSSR mit Forderungen an Regierende
Frankfurt (taz) - „Kohl und de Maiziere sollen nach Moskau fahren und dort sagen, daß alle sowjetischen Juden, die es in der UdSSR nicht mehr aushalten, in der Republik Deutschland willkommen sind!“ Das forderte Dany Cohn-Bendit, Frankfurts multikultureller Dezernent, am Samstag unter großem Beifall vor etwa zweihundert Teilnehmern einer Tagung zum anwachsenden Antisemitismus in der Sowjetunion.
Sowjetische Juden deutscher Herkunft, die vor der aktuellen Pogromstimmung in weiten Teilen der UdSSR flüchten wollten, sollten zumindest so behandelt werden wie „deutschstämmige“ Aussiedler aus Osteuropa. Bislang verweigert das Auswärtige Amt sowjetischen Emigranten eine entsprechende Fürsorge, weil ihre Pässe sie als „Juden“ ausweisen. „Gerade in einer Zeit, in der sich die beiden deutschen Staaten vereinigen, gebietet es die historische Verantwortung Deutschlands, alle sowjetischen Juden aufzunehmen, die dies wollen“, sagte Cohn -Bendit und kündigte an, die Stadt Frankfurt werde im nächsten Monat eine entsprechende Regelung im Alleingang realisieren. Micha Brumlik von den Frankfurter Grünen hingegen bekundete Bauchschmerzen wegen der Kategorien „volksdeutsch“ und „deutschstämmig“ und schlug - analog zu den vietnamesischen Boat people - „Einreisekontingente und massenhafte „Einladungen“ (für die Visaerteilung) vor.
In einem „Frankfurter Appell“, der an den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow gesandt wurde, heißt es: „Wenden Sie die Gesetze gegen nationalistische Volksverhetzung und das Schüren von Judenhaß rechtzeitig an und warten Sie nicht, bis es zu spät ist.“
Zuvor hatten mehrere Experten über die bestürzende Entwicklung des Antisemitismus in der UdSSR berichtet, der inzwischen zu einer verbreiteten, „salonfähigen“ Ideologie geworden sei, der sogar renommierte Schriftsteller und Wissenschaftler die Weihen der Wahrhaftigkeit verleihen würden.
Angesichts der schier ausweglosen Lage der sowjetischen Gesellschaft hat sich, so Howard Spier vom „Institute of Jewish Affairs“ in London, eine Mesalliance aus russischem Nationalismus, antizionistischem Judenhaß, Neostalinismus und literarischem Antisemitismus entwickelt, deren politischer Sprengstoff in der faschistischen Pamjat -Bewegung kulminiert. War der latente Antisemitismus früher vom sozialistischen Antizionismus verdeckt, so würden nun die absurdesten antisemitischen Thesen offen und mit wachsendem Erfolg verbreitet.
Arno Lustiger berichtete von einer Flut einschlägiger „Literatur“, in der die „zionistische Weltverschwörung“ der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter an der Spitze - als Ursache des russischen Niedergangs geschildert wird. Nachweislich gefälschte „Protokolle der Weisen von Zion“ werden selbst von namhaften Historikern herangezogen, um die Verantwortung der Juden für die Katastrophen Rußlands zu belegen - selbst an ihrer Vernichtung durch den deutschen NS -Staat trügen sie Mitschuld.
„Die Juden in der UdSSR haben panische Angst vor dem Tag, an dem die Pogromdrohungen Wirklichkeit werden“, sagte eine vor wenigen Jahren emigrierte Frau.
Reinhard Mohr
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen