: DDR-Warnstreik gegen West-Pumps
SchuharbeiterInnen fühlen sich von der Regierung „verschaukelt“ / IG Textil, Bekleidung und Leder beschließt einen DDR-weiten Warnstreik um auf die katastrophale Situation aufmerksam zu machen / Knapp 600.000 Beschäftigte bangen um ihren Arbeitsplätze ■ Aus Berlin Petra Bornhöft
Die Gewerkschaft Textil, Bekleidung und Leder hat gestern ihre 540.000 Mitglieder aufgerufen, am Donnerstag morgen für eine Stunde zu streiken. Statt - wie seit Wochen gewohnt für die Halde zu produzieren, sollen die KollegInnen Kleider, Schuhe und Handtaschen auf dem Berliner Platz vor dem Volkskammer-Gebäude und in anderen Städten verscherbeln. Diese „Sichtagitation“, so der Vorsitzende Hans-Jürgen Nestmann am Montag vor SchuharbeiterInnen, „soll auf die katastrophale Lage unserer Werktätigen aufmerksam und auf die Regierung Druck machen, in Richtung Schutzmaßnahmen gegen die drohende Massenarbeitslosigkeit“.Bereits in der vergangenen Woche hatten DDR-weit SchuharbeiterInnen gestreikt: der staatliche Großhandel nimmt nach der Stornierung der Aufträge zu Jahresbeginn kaum noch Schuhe ab, füllt seine Lager und die Regale des Einzelhandels mit Slippern und Pumps aus der Bundesrepublik sowie den Billiglohnländern Portugal und Thailand. Nach Schätzung der Gewerkschaft stauben eine halbe Million Paar DDR-Schuhe in den Betrieben vor sich hin.
Einige dieser Exemplare konnte gestern Staatssekretär Dr. Lothar Moritz im Ministerratsgebäude bewundern. Rund 120 Delegierte aus allen Schuh- und Zulieferbetrieben hatten im „Kino-Saal“ des Hauses ihre Produkte aufgebaut. Eigentlich war der Gewerkschaft ein Gespräch mit Ministerpräsident Lothar de Maiziere (CDU) versprochen worden, doch der ließ sich von jenem Moritz vertreten. Nach Berichten von TeilnehmerInnen wußte Moritz (laut Auskunft seines Büros „zuständig für Grundsatzangelegenheiten im Personalwesen“) wenig anzufangen mit der Forderung nach Schutzzöllen und Übergangssubventionen für die Branche, er sei „erst vor einer halben Stunde über den Termin informiert“ worden, antwortete der Mann lapidar den ArbeiterInnen. Was die Regierung zu tun gedenkt, nachdem Lothar de Maiziere vor einigen Wochen lauthals „Schutzmaßnahmen für die DDR -Wirtschaft“ proklamiert hatte, erfuhren auch Journalisten nicht. Die Regierungspressestelle ließ über den Schalter in der „Anmeldung“ mitteilen, es sei niemand da, die Presse zu „empfangen“.
Unterdessen war die Gewerkschaftsdelegation ebenfalls im Handelsministerium auf taube Ohren gestoßen. Diese Reaktionen enttäuschten die ArbeiterInnen umso mehr, als sie sich „seit Wochen die Finger wund schreiben, um unser Anliegen vorzubringen“, wie anschließend jemand auf der Versammlung im alten FDGB-Haus sagte. Der Vorschlag zum DDR -weiten Warnstreik, für den die bundesdeutsche Schwestergewerkschaft einige Megaphone spendiert, stieß indes eher auf verhaltene Zustimmung. „Was wird die Aktion fruchten“? wollte einer wissen, der schon in der vergangenen Woche an den vereinzelten Warnstreiks teilgenommen hatte. „Unsere Möglichkeiten sind begrenzt“, erwiderte der Gewerkschaftsvorsitzende, „aber wir müssen die Probleme wenigstens öffentlich machen“. Einig war man sich, daß die Mehrzahl der knapp 600.000 Beschäftigten für die einstündige Aktion gewonnen werden könnten. Und daß bei den Verkaufsaktivitäten in Berlin und anderen Städten die Kassen klingeln werden, davon sind die Schuh-, Textil- und LederarbeiterInnen ohnehin überzeugt. „Wir reden nicht von den Ladenhütern, sondern von Produkten mit hoher Qualität und modischer Gestaltung“, heißt es in einem Appell der gewerkschaftlichen Delegiertenkonferenz vom Wochenende an DDR-Bürger, Erzeugnisse aus heimischen Landen zu kaufen.
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