Das ewige Menschenrecht

■ Hannes Stein über den amerikanischen Revolutionär Thomas Paine und sein Pamphlet "Rights of Man", das vor 199 Jahren publiziert wurde

Hannes Stein

Einhundertzwanzig Jahre lang zeichneten seine Biographen ihn als selbstgefälligen Lügner, als ewig betrunkenen Parvenü und, worst of all, als Gotteslästerer. Zum Klassiker und zum Denkmal avancierte er erst in diesem Jahrhundert. Dank Bob Dylan ist er endlich auch unsterblich ins Lied eingegangen:

Just then Tom Paine, himself, Came running from across the field

Shouting at this lovely girl And commanding her to yield. And as she was letting go her grip, Up Tom Paine did run, „I'm sorry, sir“, he said to me, „I'm sorry for what she's done.“

Geboren wurde er am 29. Januar 1737 im englischen Thetford/Norfolk. Sein Vater gehörte der christlichen Quäker -Sekte an, und auch Sohn Thomas wurde als Quäker erzogen. Wahrscheinlich prägten die Ideale seiner Kindheit ihn auch als Erwachsenen tief. Noch heute sind die Quäker in den USA radikale Christen, die in der Friedens-, Ökologie- und Menschenrechtsbewegung Gutes tun.

Während der ersten Hälfte seines Lebens fiel Tom Paine öffentlich nicht weiter auf. Er versuchte sich (ungefähr in dieser Reihenfolge) als jugendlicher Ausreißer und Schiffsjunge, als Korsettmacher und Ehemann, als Lehrer, Wanderprediger, Krämer und noch einmal als Ehemann. In keinem der genannten Sektoren war Paine sonderlich erfolgreich. Mit 37 Jahren war er eine gescheiterte Existenz - ein nicht mehr ganz junger Mann mit eher dubiosen Zukunftsaussichten. Da lief ihm in London ein bunter Hund aus Amerika über den Weg: Benjamin Franklin, der damals in den europäischen Salons herumgereicht wurde. Franklin freundete sich mit Paine an und überredete ihn 1774, in die Neue Welt auszuwandern.

Tom Paine geriet nach Philadelphia. Dort engagierte ihn ein Schotte als Journalisten für sein 'Pennsylvania Magazine'; endlich war Paine beim Eigentlichen, der politischen Schriftstellerei. 1775 erschien sein Essay African Slavery in America, in dem er (fast hundert Jahre vor Abraham Lincoln) die Abschaffung der Sklaverei in den amerikanischen Kolonien forderte. 1776 erschien Common Sense, Paines erstes Hauptwerk.

In diesem Pamphlet, das anonym publiziert wurde, propagierte er offen die Trennung der Kolonien vom englischen Mutterland und forderte eine radikaldemokratische Republik mit Namen „Vereinigte Staaten von Amerika“. Common Sense kam einer Kriegserklärung gleich; an England im besonderen und den feudalistischen Absolutismus im allgemeinen. Das Pamphlet wirkte in der damals sehr angespannten politischen Atmosphäre wie Dynamit. Es machte seinen No-name-Autor über Nacht berühmt.

Thomas Paine ruhte nicht auf seinen Lorbeeren aus. Er kämpfte als Soldat und als Journalist im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Als Radikaler im öffentlichen Dienst sicherte er den ruhigen Fluß der Unterstützungsgelder, die Frankreich der Neuen Welt zukommen ließ, um seinen alten Erbfeind England zu schädigen. Paine half reichen Farmern und Grundbesitzern, die Bank of Pennsylvania zu gründen. Und er betrieb den Bau einer Brücke über den Schuylkill-Fluß in Philadelphia.

Dieses politisch vollkommen harmlose Projekt führte ihn 1787 zurück nach Europa. Tom Paine brauchte Geld, aber er brauchte auch Ingenieure, die er in Frankreich zu finden hoffte. 1789 hatte er noch immer nicht gefunden, wonach er suchte. Dafür „fand“ Paine etwas ganz anderes: die Französische Revolution, deren Anfangsphase er live miterlebte. Lafayette überreichte ihm stolz den Schlüssel zur frisch gestürmten Bastille, als Geschenk für General Washington. Tom Paine war begeistert.

1790 hielt er sich in England auf. Im gleichen Jahr erschien dort Edmund Burkes Schrift Reflections on the Revolution in France, ein konservativer Angriff auf die Französische Revolution. Paines Retourkutsche Rights of Man, die 1791 publiziert wurde, machte sofort Furore. Tom Paine aus Philadelphia wurde erneut zum intellektuellen Helden seiner Generation. Die Antwort der englischen Obrigkeit war ein Prozeß wegen staatsfeindlicher Hetze (seditious libel). Im Dezember des Jahres 1792 wurde Paine für immer aus England verbannt. Da war er schon seit zwei Monaten wieder in Frankreich.

Dort war die Revolution eben dabei, in ihre zweite und heiße Phase einzutreten. Im Nationalkonvent kämpften Jakobiner und Girondisten um die politische Macht. Paine mischte sich sofort in diese Kämpfe ein - auf seiten der moderaten Gironde. Als überzeugter Gegner der Todesstrafe plädierte er dafür, das Leben Louis Capets, des abgesetzten Königs, zu schonen. Dies trug nicht dazu bei, Tom Paine bei Robespierre beliebt zu machen. Im Oktober 1793 wurden seine politischen Freunde, die Girondisten, verhaftet und verurteilt. Im Dezember war es auch für Paine selbst soweit: Er wurde für zehn Monate ins Gefängnis gesteckt.

Im Gefängnis schrieb Paine sein drittes und letztes Hauptwerk: The Age of Reason. Darin griff er scharf das theistische - heute würde man sagen: fundamentalistische Christentum an. In Büchners Drama Dantons Tod figuriert Paine darum als Oberatheist, was freilich nicht den geschichtlichen Tatsachen entspricht. Paines Kopfgeburt war eine „sanfte“, deistische Religion der Vernunft.

1794 kam Thomas Paine frei. Infolge seiner Haft war er sowohl ein kranker als auch ein gekränkter Mann; er fühlte sich von seinen amerikanischen Freunden im Stich gelassen, am meisten von George Washington, den er darum öffentlich des Verrats bezichtigte. 1802 kehrte Paine, woher er kam, in die Vereinigten Staaten von Amerika zurück. Nun begann das letzte und dunkle Kapitel seines Lebens.

In Amerika hatte sich die Revolution in der Zwischenzeit konsolidiert. Niemand konnte mehr den demokratischen Schreihals von vorgestern brauchen: Paine? Das war doch der Verfasser dieser gotteslästerlichen Schrift The Age of Reason. Das Pamphlet Common Sense war vergessen. Zeitungen titulierten ihn als „widerliches Reptil“ und als „halbmenschliches Erzvieh“. Ehemalige Freunde schnitten ihn; die einzig rühmliche Ausnahme war Thomas Jefferson, inzwischen seines Zeichens Präsident der USA.

Verbittert und einsam zog Paine sich ins eitle Bramarbasieren zurück und suchte Zuflucht beim Alkohol. Der Kreis hatte sich geschlossen: Thomas Paine war wieder in der Obskurität des Anfangs angelangt. Am 8. Juni 1809 starb er verarmt in New York.

Edmund Burkes 400-Seiten-Traktat Reflections on the Revolution in France ist keine kurzweilige Lektüre. Tom Paine spottete respektlos über die Langatmigkeit seines Gegners, er schrieb: „Wenn die Zunge oder die Feder in einer Gefühlsaufwallung losgelassen wird, ist es nicht das Thema, das erschöpft wird, sondern der Autor.“ (Rights of Man, S.34) Zum Glück muß man Burkes Schrift nicht kennen, um Paines Pamphlet zu verstehen. Rights of Man ist weit davon entfernt, eine bloße Retourkutsche zu sein: Paine nutzte den Streit mit seinem Widersacher, um seine eigenen politischen Vorstellungen zu entwickeln. Rights of Man ist eine Art Kommunistisches Manifest der Demokratie, geschrieben zu jener Zeit, als die bürgerliche Klasse noch neureich und revolutionär war. Es ist ein Kompendium naturrechtlicher Forderungen und - Illusionen.

Edmund Burkes Argumente lauten in aller Kürze etwa so: 1) Die Französische Revolution ist das Experiment einer Handvoll verantwortungsloser Abenteurer, das nur in Blut und Chaos enden kann. 2) England bedarf einer solchen Revolution nicht, da es schon die vollkommene Staatsform besitzt. Es ist dies die konstitutionelle Monarchie, in der einige wenige Freiheiten von oben garantiert sind - maßvoll abgewogen, versteht sich. 3) Burkes Hauptargument ist strikt legalistisch: Das englische Parlament habe 1688 ausdrücklich auf jene Freiheiten verzichtet, die sich die Französische Revolution mit ihrer Erklärung der Menschenrechte auf die Fahnen schrieb. Dieser Verzicht gelte stellvertretend für die ganze Nation und für alle Ewigkeit.

Thomas Paines Antwort: „Jedes Zeitalter und jede Generation muß ebenso frei sein, in jedem Fall für sich selbst zu entscheiden, wie die vorangegangenen Zeitalter und Generationen. Die Eitelkeit und Anmaßung des Regierens über das Grab hinaus ist die lächerlichste und unverschämteste aller Tyranneien. Der Mensch hat kein Eigentum am Menschen: noch hat irgendeine Generation ein Eigentum an den Generationen, die ihr folgen werden. (...) Mr. Burkes Buch erweckt den Anschein, es sei der französischen Nation zur Belehrung geschrieben. Aber wenn ich mir den Gebrauch einer extravaganten Metapher gestatten darf, die der außergewöhnlichen Gelegenheit entspricht: Es ist Finsternis, die versucht, das Licht zu erleuchten.“ (Rights of Man, S.41ff u. S.45)

Thomas Paine stritt für die Rechte der Lebenden, nicht für die altehrwürdigen Privilegien einer feudalen Machtelite. Über Freiheiten, die von oben gewährt werden, wußte Paine folgendes zu sagen - er sprach dabei speziell zur Frage der Religionsfreiheit, aber seine Überlegungen sind wohl verallgemeinerbar: „Duldung (abweichender Meinungen) ist nicht das Gegenteil von Intoleranz, sondern dessen Fälschung. Beide sind Despotismen. Diese maßt sich das Recht an, die Freiheit des Gewissens zu verweigern, und jene maßt sich an, sie zu gewähren. Die eine ist der Papst mit Feuer und Scheiterhaufen und die andere der Papst, der Ablässe verkauft.“ (Rights of Man, S. 85)

An den zitierten Stellen wurde hoffentlich Tom Paines eigentliche Leistung deutlich. Es ist die Sprache. Hier redete einer ohne elegante Schnörkel so, wie ihm der Schnabel gewachsen war - in klarer Swiftscher Prosa. Paine hatte es dabei nicht nötig, dem Volk von oben herab aufs Maul zu schauen: Er kam ja selbst von weit genug unten. Rights of Man hat gelegentlich den Charme eines demokratischen Dampfhammers - der aber oft genug den Nagel auf den Kopf trifft.

So zu schreiben, war für die Verhältnisse des 18. Jahrhunderts unerhört. Aber noch heute wirkt Paines Rhetorik elektrisierend frisch, als wäre Rights of Man gerade gestern entstanden. Zum Beispiel die folgende Passage - sie liest sich wie eine Beschreibung der kafkaesken Verhältnisse im real existierenden Feudalsozialismus:

„Wenn der Despotismus sich, wie in Frankreich, seit Ewigkeiten etabliert hat, wohnt er nicht nur der Person des Königs inne. Äußerlich hat es den Anschein, es sei so: aber es ist nicht so in der Praxis und in Wirklichkeit. Seine Normen gelten überall. Jedes Amt und jede Abteilung hat ihren Despotismus, der auf Tradition und Gewohnheit gegründet ist. Jeder Ort hat seine Bastille und jede Bastille hat ihren Despoten. (...) Gegen diese Art des Despotismus, der sich durch ein endloses Ämterlabyrinth fortsetzt, bis sein Ursprung kaum mehr wahrnehmbar ist, gibt es kein Rechtsmittel. Er stärkt sich selbst, indem er die Erscheinung der Pflicht annimmt, und tyrannisiert unter dem Vorwand zu gehorchen.“ (Rights of Man, S. 48)

Von den totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts konnte Thomas Paine freilich nichts wissen. Selbst der reaktionärste feudale Despotismus war ein Kinderspiel, verglichen mit den tödlichen Errungenschaften unserer unvergleichlichen Epoche. Doch an einer Stelle seines Pamphlets beschreibt Paine immerhin einen Vorgeschmack des Totalitarismus. Er schildert die Begegnung mit einem jener unglücklichen Landeskinder, die damals von Deutschland nach Amerika verkauft wurden, um an der Seite der Konterrevolution in den Krieg zu ziehen:

„Regierung mit Anmaßung ist Despotismus; aber wenn Verachtung hinzukommt, wird es schlimmer; und für Verachtung zu bezahlen, ist der Exzeß der Sklaverei. Diese Regierungsform kommt aus Deutschland und erinnert mich an das, was mir einer der Braunschweiger Soldaten erzählte, die im letzten Krieg von den Amerikanern gefangengenommen wurden. 'Ach‘, sagte er, 'Amerika ist ein gutes, freies Land und wert, daß das Volk für es kämpft. Ich kenne den Unterschied, denn ich kenne mein eignes Land. Wenn dort der Prinz sagt: Freßt Stroh, dann fressen wir Stroh.‘ Gott helfe dem Land, dachte ich, sei es England oder ein anderes, dessen Freiheiten durch deutsche Regierungsprinzipien beschützt werden sollen, oder durch Prinzen von Braunschweig!“ (Rights of Man, S.120ff)

Thomas Paines Hoffnungen knüpften sich an die beiden großen Umwälzungen, die seine Ära prägten: die Revolutionen in Amerika und Frankreich. In diesem Sinne bietet Rights of Man freilich auch wenig wirklich Neues. Paine hatte starke Schultern, auf denen er stehen konnte: die französische Erklärung der Menschenrechte (sie wird in Rights of Man in voller Länge zitiert) sowie die Traditionen der Aufklärung und des Naturrechts. Doch in einem Punkt geht Rights of Man weit über andere zeitgenössische Publikationen hinaus. Im letzten Kapitel skizziert Paine die Umrisse eines sozialen Wohlfahrtsstaates und berechnet penibel Möglichkeiten seiner Finanzierung.

Das ist bemerkenswert, denn Tom Paine war kein Sozialist, ebensowenig wie die anderen demokratischen Revolutionäre seiner Zeit. Auch die radikalen Jakobiner hatten die Illusion, durch politische Freiheit und rechtliche Gleichheit würden sich die sozialen Probleme von selbst lösen. Armut war nach Paines Ansicht eine direkte Folge von Interventionen des Staates in die Ökonomie.

Das klingt wie ein kapitalistisches Credo und ist es auch. In Rights of Man aber findet sich dieser Absatz: „Was auch immer die Regierungsform sein mag, sie sollte kein anderes Ziel haben als das allgemeine Glück. Wenn sie statt dessen bewirkt, daß in irgendeinem Teil der Gesellschaft Elend erzeugt und vermehrt wird, gründet sie sich auf einem falschen System, und Reformen werden notwendig.“ (Rights of Man, S. 210) Die Regierungen Thatcher und Bush könnten Thomas Paine wahrscheinlich nicht unter ihre aktiven Unterstützer rechnen.

Rights of Man ist gerade in diesen bewegten Zeiten eine aufregende Lektüre. Die Völker östlich der Elbe haben 1989 das bicentenaire der Französischen Revolution auf ihre Art gefeiert. Sie nahmen sich das ewige Menschenrecht zurück und beförderten den Neostalinismus, endlich, auf den Misthaufen der Geschichte.

Die demokratischen Revolutionen Ost- und Mitteleuropas haben hoffnungsvolle Perspektiven eröffnet. But they have also opened a whole new can of worms - zu deutsch: Sie haben auch als Büchsenöffner für neue Dosen gewirkt, in denen es von alten Würmern wimmelt. Unter ihnen sind einige besonders braune und fette Exemplare. Gegen solche faschistischen Häßlichkeiten könnte das demokratische Pathos von Rights of Man ein wirksames Gegengift sein. Nicht „Freiheit statt Sozialismus“, mein politischer Slogan lautet: Paine statt Pamjat.