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Wiedervereinigung auf italienisch

■ Die Deutschen wiederholen die Fehler des italienischen „Risorgimento“ - Punkt für Punkt, nur hundertdreißig Jahre danach

Werner Raith

Bei der Restauration Gesamtdeutschlands sind wir - allesamt, nicht nur Kohl und Genossen, sondern auch die kritischen Linken und die Grünen - offenbar fest entschlossen, offenen Auges auch deutschlandintern all jene schlimmen Fehler zu wiederholen, die andere uns vorgemacht haben und an denen sie noch immer (und auf unabsehbare Zukunft) leiden. Das beste Beispiel dafür ist die Einigung Italiens im vorigen Jahrhundert - geradezu gespenstisch die Parallelen, die sich zwischen der damaligen unificazione und der derzeitigen Vereinnahmung der DDR ergeben. Es sind die Jahre zwischen 1850 und 1870 in Italien, die man, wenn man schon historisch vergleichen will (was immer seine Schwächen hat), neben das legen muß, was derzeit in Mitteleuropa passiert, und nicht jenes famose französische 1789, wie wir es gerne hätten.

Italien, das geographische, fand sich Mitte des 19. Jahrhunderts in einer zur derzeitigen deutschen ziemlich analogen Situation: gespalten aufgrund der anhaltenden Auseinandersetzungen der Großmächte - Frankreich, England, Österreich -, der Nordwesten des Landes (Piemont-Sardinien) modernisiert und wirtschaftlich kräftig und mit einem für die damalige Zeit sehr fortschrittlichen vordemokratischen Gesellschaftssystem; der andere Teil infolge der Besetzung (Venetien und Lombardei) oder Abhängigkeit (Süditalien und Sizilien) von der ausbeuterischen Großmacht Österreich - dem damaligen Pendant zur Sowjetunion unserer jüngsten Geschichte - rückständig und wirtschaftlich kaum mehr lebensfähig. Während die Menschen in Süditalien die Anlehnung ihrer - teilweise mit den Österreichern verwandten, teilweise nur durch deren Intervention im Sattel verbliebenen - Regenten nie akzeptiert haben (noch nach dem Zweiten Weltkrieg hieß das Räuber-und-Gendarm-Spiel in Neapel Italien Caccia all'austriaco, Jagd auf Österreicher), bejahten die Bürger Piemont-Sardiniens die Liaison mit den kapitalistisch fortgeschrittenen Großmächten Frankreich und England nahezu uneingeschränkt. Und so trieben die Politiker des Nordwestens - von Mazzini bis Cavour - den Einigungsgedanken denn auch nahezu ausschließlich unter dem Aspekt der wirtschaftslibertären Demokratie voran - immer in der Hoffnung, auch in den rückständigen Gegenden Italiens genug Helfer zu finden, denen die traditionellen Fesseln und die Unlust am „Schutzherrn“ Österreich den notwendigen Antrieb zu regimeschwächenden Erhebungen bieten würden. Tatsächlich gab es in Palermo wie auch in Neapel häufig kleinere und mittlere Aufstände, getragen von den Arbeitern der (allerdings nur wenigen) Fabriken, verarmten Bauern, Tagelöhnern auf dem Land sowie von einer kritischen Intelligenz, die schon am Ende des 18. Jahrhunderts den Einmarsch der Franzosen als Sieg der Vernunft gefeiert hatte (die aber, siehe DDR heute, schnell von Politprofis und Geschäftemachern verdrängt wurden, weil sie ihre Ideen im abstrakten Himmel der edlen Werte und nicht im Brot und Wein der Arbeiter und Bauern verankert hatten). So richtig in Gang kam die interne Erhebung gegen die regierenden Bourbonen und die mit ihnen verbündeten Österreicher weder in den besetzten Gebieten des Nordens noch im Süden. Erst als der Haudegen Garibaldi 1859 mit seinen militärisch geradezu lächerlichen tausend Mann in Sizilien landete, brach die Herrschaft innerhalb weniger Monate zusammen: Das Zeichen, daß man von dem als Wohlstandsparadies eingeschätzten Norden aktive Unterstützung gegen die eigenen Parasiten bekam, ließ eine mächtige Aufstandsbewegung entstehen und verdarb gleichzeitig den bisherigen Gewalthabern den Mut zum Widerstand. Die Bourbonen flohen, die Österreicher zogen sich, wenig später auch noch durch den Krieg mit Preußen zermürbt, aus Italien zurück. Der Kirchenstaat, schon ohne Kraft, gab unter Pius IX. keiner friedlichen Lösung Raum und hielt Rom noch bis 1870, dann fiel auch er; Italien war nun von den Alpen bis nach Sizilien vereinigt.

Doch was war das für eine Sorte Vereinigung? Wieder ist sie da, diese Parallele zu BRDDR: Die Vereinigung kam nicht durch einen Zusammenschluß autonomer Teile mit eigener Identität zustande, sondern wurde faktisch zur Annexion: Piemont-Sardinien diktierte, mit seinem nun in Rom residierenden savoyischen König Viktor Emanuel und dem Industriekapital der Turiner Maschinen- und Waffengroßunternehmen, was zu geschehen hatte. Die übrigen Teile bekamen nicht einmal ein paar Monate, geschweige denn die notwendigen Jahre, sich aus ihrer von Spitzelei und Ausbeutung geprägten Vergangenheit zu befreien und sich ein eigenes kulturelles und gesellschaftliches Selbstbewußtsein zu schaffen. Alles hatte innerhalb weniger Wochen zu geschehen: Zollabbau und Währungsvereinheitlichung, Schulhomogenisierung und Reform der Regionalverwaltung; vor allem aber der Sauseschritt in die „Modernisierung“: Zu Hunderten entstanden Finanz- und Aktiengesellschaften im ganzen Land - wobei die meisten Menschen im Süden, selbst die gebildeten, nicht einmal genau wußten, was sie darunter verstehen sollten. Von den gut zweitausend Fachpublikationen über Wirtschaft und Wirtschaftspolitik, die aus dieser Zeit in der römischen Staatsbibliothek vorhanden sind, stammen nicht weniger als 1.750 von norditalienischen Experten. Und diese zeigten alles andere als Einfühlungsvermögen in die Denk- und Verhaltensweisen der Südstaatler; selbst wo sich Kritik an der Vereinigungseuphorie zeigte, hieß dies noch keineswegs, daß die Nordlichter dem Süden irgendwelche positiven Gefühle entgegenbrachten. Links wie rechts und in der liberalen Mitte herrschte gleichermaßen das Klima der Schlaumeierei und der Belehrung gegenüber den Nachzüglern aus dem Süden; und das blieb noch lange so. Selbst Antonio Gramsci, Vordenker und Mitgründer des PCI, konnte seine kulturelle Herkunft aus dem fortschrittlichen Sardinien nicht verbergen und zeigte in seinen zahlreichen Schriften zur Südfrage den typisch nordistischen Ansatz des Operaiismus, geprägt von der großen Arbeiterbewegung und unfähig, die Bedürfnisse der Landarbeiter von denen des Industrieproletariats wirklich zu unterscheiden.

Da es fundamental am Verständnis für die Nöte und Sorgen der Menschen im annektierten Teil des Landes fehlte und der Gründerrausch keinerlei Aufschub zwecks Identitätsfindung für die rückständigen Regionen zuließ, bemerkten die Menschen das „Neue“ vor allem in einer enormen Erhöhung ihrer Tributpflichten - die Vereinigung kostete, damals wie heute, mächtig viel Geld; und dabei sanierte sich Sardinien -Piemont noch kräftig mit. Als alle Schulden getilgt waren, hatte jeder Bürger viermal so viel für die neuen Kommandoherren aus dem Norden bezahlt als zur Tilgung der Lasten aus der doch als besonders ausbeuterisch verschrieenen Bourbonenherrschaft notwendig war. Wobei es den Regierungen - nun in Rom, aber, außer vom savoyischen König, immer auch noch konditioniert von piemontesischen Ministerpräsidenten und Ressortchefs - auch noch gelang, ihre mageren Haushaltsausgaben für den Süden als „großzügige Investitionen“ des Nordens im Süden zu verkaufen. Die Zeitungen der Zeit sind voll des Lobes für die „Freigiebigkeit“ der Regierung - wobei sämtliche überregionalen Blätter freilich in der Hand norditalienischer Unternehmer waren.

Die süditalienische Intelligenz mußte sich in teilweise nicht einmal überregionalen, oft nur lokalen Blättern austauschen und sah sich, wo immer sie im Norden auftauchte, schnell untergebuttert: Was zu tun war, erklärten ihnen die Besserwisser aus Turin, Mailand, Florenz so zügig, daß die Tagungen zu Ende waren, ehe die Südstaatler begriffen hatten, was da eigentlich geschah. Die Literatur des Südens hat sich dieser Plattwalzung später angenommen und darauf, letzte Rettung, entweder mit dem Absurden a la Pirandello, nostalgischen Gegenkulturen wie den Ritterfabeln aus dem Mittelalter zur Verherrlichung der Vasallentreue oder mit fiktiven Erfolgsfabeln über die Zeit der Aufklärung wie Natolis Beati Paoli geantwortet.

Geschätzt waren die Süditaliener lediglich auf einem Gebiet: Administration und Polizeiwesen. Da der Süden weithin von der Kirche und den mit ihr verbündeten Feudalisten beherrscht gewesen war und beide zwecks Ausbeutung eine besonders effektive Verwaltung, sprich durchschlagskräftige Eintreiber und Spitzel, ausgebildet hatten, konnte man just diese Funktionärs- und Zuträgerkaste alsbald im ganzen Land beobachten, wie sie, nun im Dienste der Piemontesen, wie eh und je verwaltete, einholte, herauspreßte, was herauszupressen war. Das hält bis heute an: So wenig die Südstaatler von Industrie- und Wirtschaftsmanagement am Hut haben, so gut sind sie als Beamte und Polizisten einsetzbar.

Genau dieser Aspekt führte aber zu einer besonders unheilvollen Entwicklung, seit er sich mit einem anderen Faktor in der Reaktion auf die Vereinigung per Annexion verbunden hat - der Entstehung und Festigung einer politisch -gesellschaftlichen Gegenkultur, die den Menschen ebenjenen Schutz und jenes Rechtssystem verspricht, die ihnen der Staat aus Desinteresse am Schicksal des Südens nicht gibt. Mit anderen Worten: die zuerst nur regionale Parallelmacht, die dann durch zunehmende Verfilzung mit der Administration immer mehr in den Staat und seine Organismen selbst eindrang, diese nicht mehr nur regional, sondern sukzessive gesamtnational durchsetzte und heute bereits nahezu unausrottbar in Teile des Staates selbst integriert erscheint.

Der Einwand, daß die Durchsetzung des Staates von Unteritalien mit Dunkelmännern und organisierten kriminellen Zirkeln nur aufgrund der dortigen Traditionen oder eingewurzelter subterraner Strukturen geschehen konnte und daß das den Deutschen nicht passieren wird, weil sie eine durch und durch andere Kultur entwickelt haben: Das, was sich in Unter- und dann ganz Italien entwickelt hat, war und ist auch, und keineswegs nachgeordnet, Konsequenz der verfehlten Politik der Vereinigung durch faktische Annexion seitens der reichen Vettern.

Die anfängliche Rieseneuphorie der „befreiten“ Südstaatler bekam die ersten Risse, als sie bemerkten, daß ihr Idol Garibaldi im Verein mit den verzweifelten Hungerleidern und den lokalen Vordenkern einer gleichrangigen Vereinigung von Süd und Nord zwar die alten Herrscher vertrieben hatte, sich dann mit seinen demokratisch-sozialistischen Ideen aber nicht weiter durchsetzen konnte, sondern völlig andere Leute das „Neue“ exekutierten - und ganz und gar nicht im Sinne der Aufständischen. Weder gab es Amnestien für die revoltenentscheidenden antibourbonischen Banditen, noch kam der erhoffte und groß versprochene wirtschaftliche Aufschwung im Süden. Im Gegenteil, ein Großteil der Bauernhöfe ging zugrunde, weil sich Oberitalien seine Märkte und damit auch seine Verpflichtungen zu Gegengeschäften in Mittel- und Nordeuropa und in Übersee suchte und dem Süden seine Waren allenfalls zu Ramschpreisen abnahm: Und wo im Süden modernisiert wurde, gerieten die Höfe ebenso wie neugegründete Industrien alsbald in die Hand norditalienischer Geldgeber. Statt Schulen und Hochschulen für die Menschen in Kalabrien oder Sizilien zu gründen, schickte der neue Staat seine Techniker und Manager dorthin

-und warb gleichzeitig die sowieso wenigen Spezialisten aus dem Süden in den Norden ab. Es gibt bis in die Sechziger unseres Jahrhunderts hinein volle Abiturjahrgänge, von denen kein einziger Absolvent auf der Insel blieb.

Doch auch wer keine besondere Ausbildung besaß, floh, sobald er konnte. In immer neuen Wellen entleerte sich der Süden: Kalabrien verlor in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts mehr als ein Drittel seiner Einwohner durch Auswanderung, dann nach einer Regenerierungsphase in den zwanziger Jahren erneut ein Viertel, nach dem Zweiten Weltkrieg wieder mehr als ein Drittel. Aus Sizilien büchste ein Viertel der Einwohner aus, die Basilicata - traditionell die ärmste Region des Landes - mußte teilweise einen Schwund von örtlich mehr als der Hälfte aller Einwohner verkraften, der neapolitanischen Campania kamen 20 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung abhanden.

Gerade die Campania läßt sich wiederum besonders gut in Parallele zur Situation in der DDR setzen. Dort hatte es vor der Vereinigung immer wieder auch einen industriellen Aufschwung gegeben, wenn auch nicht auf piemontesischem oder lombardischem Niveau; es hatte sich auch ein beträchtliches liberales Denkerpotential angesammelt, das den reaktionären Bourbonen kräftig einheizte. Doch kaum war die Vereinigung vollzogen, brachten die Nordbetriebe die unliebsame Südkonkurrenz entweder zur Pleite oder kaufte die rentableren Unternehmen auf.

All das förderte geradezu zwangsläufig die Abneigung gegen den vereinigten Staat, kristallisiert als Verweigerung gegenüber den Direktiven aus Rom und als oft sogar handgreifliche Aversion gegen jeden, den man im Verdacht hatte, der norditalienischen Herrscherkaste anzugehören. Da die Macht der Regierung, das staatliche Gewaltmonopol, aber auch die Fürsorge der Behörden den unteritalienischen Bürgern durchwegs als Ausübung okkupatorischer, durch keinerlei Konsens der Bevölkerung legitimierter Willkür erschien, konnten unzählige, teils bereits unter den vorgegangenen Herrschern entwickelte, teils neuentstehende Formen gesellschaftlicher Vermittlung Fuß fassen - die Mafia in Sizilien, die 'Ndrangheta in Kalabrien, die „Scara corona“ in Apulien, die Camorra in der Campania entwickelten sich zu Organisationen, ihre Bosse zu Ansprechpartnern des Normalbürgers, die all jene Fragen und Probleme lösten, die eigentlich zum Arbeitsbereich staatlicher und gesellschaftlich legitimierter Stellen gehören würden, von der Schlichtung von Streitigkeiten bis zur Posten- und Arbeitsplatzvergabe und zur Akquisition öffentlicher Aufträge, vom Schutz vor Konkurrenten bis zur Steuerung der Kriminalität. „Die Menschen hier küssen dem Capomafia die Hand, nur weil der ihnen bürokratische Arbeit erledigt oder für sie beim Dorfpolizisten oder Bürgermeister ein Wort einlegt“, schrieb verzweifelt noch in den fünziger Jahren der Lehrer Danilo Dolci, „und selbst wenn man ihnen vorrechnet, daß sich der Boß anläßlich der 'Erledigung‘ der Rentenangelegenheit oder des Zuschusses für das Grundstück mehr als die Hälfte abschneidet, verweisen sie darauf, daß sie sonst gar nichts bekämen, wenn der 'Don‘ sich nicht ihrer annehmen würde.“

Und die ehrenwerten Herren sorgten natürlich auch dafür, daß es so blieb. Wo immer einsatzfreudige Gewerkschafter auftauchten und Landkooperativen gründeten oder wo der Staat sich aufraffte und mal die eine oder andere Nische besetzte, wußten die immer mehr erstarkenden, mit ehrgeizigen Beamten und Politikern kungelnden Vermittler und Gauner eine Minderung ihres Einflusses zu verhindern - vornehmlich unter Ausnutzung der bösen Erfahrungen von früher mit den ausbeuterischen Nordmenschen. „Dieser Piemontese“, schnaubte noch 1982 der undurchsichtige Bürgermeister Martellucci in Palermo, als die Regierung nach einer gruselerregenden Mordserie an Politikern, Richtern, Staatsanwälten, Polizisten und der hundertsten Klage just aus Sizillien über die „mangelnde Präsenz des Staates“ den General Carlo Alberto dalla Chiesa zum Kampf gegen die Mafia auf die Insel schickte: „Wir brauchen keinen Antimafiapräfekten, sondern Geld.“ Die Klans ermordeten den Ordnungshüter denn auch postwendend, sicher des Verständnisses breiter Bevölkerungsschichten gegen diesen erneuten Beweis der „Besetzung durch den Norden“.

Das tiefe Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den „reichen“ italienischen Nordmenschen, die alles besser machen und viel effektiver sind, bei gleichzeitig anhaltendem Trotz infolge des unentwegt verletzten Stolzes hat mitunter auch geradezu absurde Konsequenzen gefördert - so etwa die Verweigerung auch gutgemeinter und respektvoller Hilfe aus dem Norden. Man lehnt sie - zumindest wenn damit auch gewisse Pflichten oder Vorschriften zum adäquaten Gebrauch verbunden sind, nur deshalb ab, weil man fürchtet, bald dafür „zahlen“ zu müssen.

Die Schere zwischen den begüterten, an die „Erstweltländer“ Europas angeschlossenen Regionen des Nordens öffnet sich auch aus diesem Grunde immer weiter. Mehr als doppelt soviel verdient ein Piemontese wie ein Arbeiter aus der Basilicata, die Arbeitslosenquote ist, mit mehr als 18 Prozent, im Süden mehr als dreimal so hoch wie im Norden, Tendenz steigend. Dabei fließt im Süden insgesamt fast doppelt soviel Geld wie im Norden - nur, es ist kein produktives Kapital, sondern durch die Schattenwirtschaft der mafiosen Parasiten entstehender Profit.

Es war - bei allem, was man gegen die damalige rein obrigkeitliche Oktroyierung sagen kann - der große Vorteil der deutschen Reichseinigung von 1871 (und bleibt der große Unterschied zu Italien und zur BRDDR), daß das deutsche Reich im vorigen Jahrhundert aus einem umfänglichen, bunt durcheinandergewürfelten Mosaik ganz unterschiedlich entwickelter Staaten, kleineren und größeren, zusammengebaut wurde. Es war zum - wirtschaftlichen - Glück des neuen Gebildes so strukturiert, daß nicht an einem geographischen Ende die Reichen und am anderen die Armen saßen. Die rückständigen und schwachen Regionen lagen verstreut zwischen den fortgeschrittenen. Sachsen und Schlesien hatte ebenso wie Preußen, das Rheinland und Teile des Südens eine bereits ansehnlich differenzierte Industrie, und die überwiegend agrarischen Bezirke Bayerns, der Pfalz, Schleswig-Holsteins waren großenteils schon auf dem Weg in eine moderne landwirtschaftliche Struktur. Dazu hatten alle Reichsländer ein für Produktion wie Absatz ausreichendes bis ausgezeichnetes Hinterland auch bei den Nachbarstaaten, so daß die Weiterentwicklung niemals in Gefahr war. Unteritalien und Sizilien aber brachten nicht nur die wirtschaftliche Rückständigkeit mit - sie hatten, der Halbinsel beziehungsweise Insellage wegen, auch kein Umfeld zur Entfaltung. Rein geographisch hätte die DDR natürlich ein Hinterland. Doch die Länder dort sind eher noch rückständiger und auf gar keinen Fall Impulsgeber oder gar Absatzfelder. Die Abhängigkeit der Menschen in der DDR vom Westen verstärkt sich so wie seinerzeit die Unteritaliens innerhalb ihres neuen Staates.

So wird den Menschen in der DDR, wollen sie die Vereinigung überleben und nicht durch Auswanderung ihr Land ausbluten, gar nichts anderes übrigbleiben, als analog zum italienischen Süden Mechanismen zu entwickeln, wie man dem Westen Geld entlockt, ohne dafür konkurrenzfähige Produkte liefern zu können - mit allerlei Tricks, dem Schrei nach Wahlgeschenken oder gar notfalls, wie einst die Sizilianer, mit der Drohung einer Wiederabspaltung. Wachsen werden, dazu braucht man kein Prophet zu sein, Schattenwirtschaft und Mittlerstrukturen zur Verteilung des wenigen Vorhanden (notfalls mit organisiert-kriminellen Mitteln), parallel zum offiziellen Staat, bald aber durch Verfilzung auch in diesen illegitim integiert. Die Tendenzen zur Aufrechterhaltung einer ganzen Reihe aus der Vergangenheit bekannter subterranen Strukturen - der Stopp der Generalreinigung in der Politik und die Weiterbeschäftigung alter Partei- und Spitzelkader zeigt es - belegen, daß diese Entwicklung schon im Gange ist.

Man braucht nicht viel Phantasie um zu erkennen, daß all das nicht weit von dem enden wird, was wir in Italien heute sehen.

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