: Politiker in der Zirkuskuppel ratlos
Thesen zur Politik in Berlin vor und nach dem Tag X (Währungsunion) ■ D O K U M E N T A T I O N
1. Nach allem was wir wissen, wird die Währungsunion am 1. Juli kommen. Von diesem Tag an ist aus der Sicht der Menschen in beiden Teilen der Stadt die Einheit hergestellt. Die Folgen für das alltägliche Leben werden weitreichender sein als die Folgen des 9.November.
2. Die Währungsunion soll nach den gegenwärtig bekannten Vorstellungen mit einer Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft unmittelbar verbunden werden. Das bedeutet für eine aus der Sicht der Bevölkerung einheitliche Stadt weitgehende Freizügigkeit für Kapital und Arbeit. Damit werden die größten Probleme der Menschen im Westen die bereits vorhandene Wohnungsnot und eine zunehmende Arbeitslosigkeit sein, die vor allem die ausländische Bevölkerung trifft. Im Osten wird es zu vielen Entlassungen und zu einem außerordentlich komplizierten Wohnungsschwarzmarkt kommen.
3. Ein weiteres entscheidendes Problem ist bisher noch nicht in das öffentliche Bewußtsein gedrungen. Mit dem Tag der Währungsunion verliert die gesamte öffentliche Verwaltung in der DDR (das sind der eigentliche „Staatsapparat“ und „nachgeordnete Behörden und Einrichtungen“) ihre finanzielle Basis. Diese bestand bisher zu über 80 Prozent aus Transferzahlungen der produzierenden volkswirtschaftlichen Einheiten. Der Staatsvertrag sieht insoweit vor, daß die DDR vom Tag der Währungsunion an verpflichtet ist, unser Steuerrecht und unser Haushaltsrecht zu übernehmen.
4. Auf der Einnahmeseite der Staatshaushalte liegt das Problem darin, daß unser Steuerrecht kaum geeignet ist, kurzfristig in der DDR Einnahmen zu erbringen. Mit der Mehrwertsteuer als vorerst wichtigster Steuerquelle ist aufgrund von Vollzugsproblemen erst im Jahre 1991 zu rechnen. Die Einkommenssteuer steht ebenfalls vor ungeheuren Vollzugsproblemen bei ihrer Einführung und bringt darüber hinaus erst bei steigenden Löhnen und Gehältern wesentliche Einnahmen. Die Grundsteuer fällt bis zur Einführung eines freien Bodenmarktes als Finanzierungsquelle für kommunale Haushalte praktisch weg und die Gewerbesteuer als Ersatz für die bisherigen Transferzahlungen bedarf erst langwieriger politischer Ausgestaltungs- und Umsetzungsakte. Da auch die Transferzahlungen innerhalb der staatlichen Ebenen - also vom Zentralstaat an die Bezirke und Kommunen - noch nicht geregelt sind, stehen zumindest die kommunalen Haushalte 1990 praktisch ohne Einnahmen da.
5. Der Staatsvertrag sieht bisher Transferzahlungen der Bundesrepublik Deutschland nur in Form von kurzfristigen Kassenkrediten an die Zentralregierung vor. Sie erreichen in der anvisierten Höhe noch nicht einmal 2 Prozent des vermutlichen Bedarfs an Finanzmitteln für das erste Jahr.
6. Der Staatsvertrag sieht weiterhin auf der Aufgabenseite die Übernahme unseres Haushaltsrechts vor. Die staatlichen Institutionen in der DDR stehen damit vor der Aufgabe einer sofortigen Trennung zwischen öffentlichen und privatem Bereich. Gegenwärtig versucht die - immer noch von den ehemaligen SED-Kadern beherrschte - Bürokratie alle „privatisierungsfähigen“ nachgeordneten Behörden und Einrichtungen in GmbHs umzuwandeln und mit möglichst großen Geldfonds auszustatten, die bei der Währungsänderung dann als Ausgangskapital zur Verfügung stehen. Sich selbst setzen die Herren in die Aufsichtsrats- und Fondsverwalterposten ein. Ein Großteil dieser privatisierten Einheiten wird jedoch nach Aufzehrung der Fonds auf dem Markt nicht überleben können.
7. Innerhalb des eigentlichen staatlichen Bereichs ist ebenfalls in der Regel eine - verglichen mit unseren Standards - erhebliche personelle Überbesetzung festzustellen. Dies gilt allerdings nicht für alle Bereiche. So fehlen nicht nur die eigentliche Steuer- und Finanzverwaltung, sondern auch im Querschnitt Fachleute für Finanz- und Haushaltswirtschaft sowie für Rechtsfragen.
8. Der Finanzmangel des öffentlichen Bereichs in der DDR nach dem Tag X wird zu erheblichen zusätzlichen sozialen Problemen führen, weil Entlassungen in vielen Bereichen und Schließungen von Einrichtungen vorgenommen werden müssen. Dies wird vor allem die Kommunen treffen.
9. Die Probleme werden sich noch verschärfen durch prozyklische politische Entwicklungen. Während zum Beispiel bisher der bauliche Zustand der kommunalen Gebäude nicht diskutiert werden durfte, wird er ein Dauerthema der demokratisch gewählten Bezirksverordnetenversammlungen sein. Die Forderungen nach Finanzmitteln werden sehr schnell, die Bereitschaft zu erhöhten Mietzahlungen nur langsam wachsen.
10. Alle soeben aufgezählten Probleme können durch Verlangsamung des Wegs zur Einheit nicht mehr positiv beeinfluß werden. Der Zug in diese Richtung ist nicht nur politisch abgefahren, sondern - zum Beispiel wegen der dargestellten Aktivitäten der alten SED-Kader und des Wirtschaftens auf Pump - auch aus pragmatischen Gründen sinnvoll nicht mehr zu stoppen.
11. Für Berlin stellt sich nicht nur die Frage, wer die Kosten trägt, sondern - insoweit vom übrigen Bundesgebiet abweichend - vor allem die Frage, wer all dies in den nächsten Monaten politisch verantwortet. Die Bürger Ost -Berlins, aber auch die Bürger West-Berlins werden sich mit dem Hinweis auf die Verantwortung von Kohl und de Maiziere nur teilweise zufriedengeben. Bisher wird in keinem der in Ost- oder West-Berlin relevanten politischen Kräfte öffentlich diskutiert, was das bedeutet. Dabei liegt das Problem auf der Hand. Die Bürgerinnen und Bürger Ost-Berlins werden mit guten Gründen verlangen, daß die Probleme gemeinsam gelöst werden: Aufhebung der Teilung der Stadt durch gleichmäßige Verteilung der Lasten. Die Bürgerinnen und Bürger West-Berlins werden genau hierzu mit guten Gründen nicht bereit sein.
12. Auf eine mit massiven sozialen Problemen verbundene defizitäre Lage im öffentlichen Haushalt kann eine Gebietskörperschaft dann, wenn sie die sozialen Probleme nicht noch verschärfen will, nur mit vorsichtigen Sparstrategien bei gleichzeitiger Erhöhung der Einnahmen reagieren. Es ist gegenwärtig nicht ersichtlich, daß die SPD -Mehrheit im Senat von West-Berlin in diesen für die Wirtschaftskraft der nächsten Jahre zentralen Bereichen bereit ist, Vorsorge für die kommende Entwicklung zu treffen und Verantwortung für die Gesamtstadt zu übernehmen. Die Innenverwaltung hat noch nicht einmal ansatzweise Vorstellungen von den Verwaltungsstrukturen der Gesamtstadt erarbeitet. Vorbereitungen für gemeinsame Planungen werden von ihr personell nicht unterstützt und die Finanzverwaltung hat sogar die völlig unzureichenden Finanzmittel des Regionalausschusses vorerst blockiert.
13. Aber selbst die Vermittlung zwischen Stadt und Umland wird einem - zu diesem Zweck neu zu konstruierenden Regionalausschuß schwerfallen. Das Umland wird vor noch größeren finanziellen Problemen stehen als die Stadt Berlins. Da ihm keine anderen Strategien als der Stadt zur Verfügung stehen, wird auch hier die Grund- und Gewerbesteuer für die Kommunen der einzige Überlebensweg sein; darüber hinaus werden sie versuchen, direkte Infrastrukturzuschüsse von Investoren zu erhalten. Damit treten die Umlandgemeinden aber in eine direkte Konkurrenz zur Stadt; sie verschärfen durch unkoordinierte Regionalentwicklung massiv die Ver- und Entsorgungsprobleme sowie die Verkehrs- und Umweltprobleme der Region, ohne daß sie zu ihrer Lösung etwas beitragen werden.
Klaus Groth
Der Autor ist Staatssekretär bei der Berliner Senatorin für Stadtentwicklung und Umweltschutz. Obige Dokumentation ist eine gekürzte Fassung des Originaltextes.
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