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Die neue Qualität des Antisemitismus

Michael Chlenow (50), Sprecher der fünfköpfigen sowjetischen Delegation beim Jüdischen Weltkongreß in Berlin, über den neuen Antisemitismus in der UdSSR  ■ I N T E R V I E W

taz: Herr Chlenow, wieviele Juden leben heute in der Sowjetunion?

Chlenow: Wir glauben, so um die drei Millionen. Offiziell sind es weniger, denn es war immer schwierig, sich als Jude zu bekennen. Und nach wie vor ist ungeklärt, wer eigentlich als Jude gilt - die, die glauben oder auch die, die ein jüdisches Elternteil haben. Erst in den letzten Jahren bekannten sich viele zum Judentum.

Während der Stalin-Ära, nach dem Zweiten Weltkrieg, wurden die Juden in der Sowjetunion als Zionisten diskriminiert oder gar verfolgt. Unterscheidet sich der jetzt neu aufflammende Antisemitismus vom dem jener Zeit?

Ja, es gibt einen ganz wesentlichen Unterschied. Die fast schon „normale“ Diskriminierung während der vergangenen Jahrzehnte haben wir immer als staatlichen Antisemitismus bezeichnet, als eine von der Regierung praktizierte Ausgrenzung. Jener Antisemitismus kam nicht von unten. Heute ist der staatliche Antisemitismus, obwohl nicht ganz verschwunden, schwächer geworden. Gefährlicher jedoch ist die neue Ausformung. Der neue Antisemitismus ist zu einer organisierten politischen Bewegung von Rechtsradikalen geworden. Unter dem Dach der antisemitischen und nationalchauvinistischen Bewegung „Pamjat“ haben sich mehr als 30 Organisationen versammelt. Und diese Bewegung genießt bei weiten Teilen der Bevölkerung der Sowjetunion großes Ansehen. Bei den Wahlen zum Moskauer Stadtsowjet haben sie zehn Prozent der Stimmen erzielt. Im Obersten Präsidium gibt es zwei Abgeordnete, die offen antisemitische Positionen vertreten.

Wie äußert sich diese neue Form des Antisemitismus?

Er manifestiert sich in einer offenen Propaganda gegen die Juden, ähnlich dem nationalsozialistischen Terror während der Weimarer Republik. Die reden von der jüdischen Weltverschwörung, von einem jüdisch-freimaurerischen Komplott. Angeblich tragen die Juden die Verantwortung für den Tod von so vielen Millionen Russen der Stalin-Zeit. Sie arbeiten neuerdings mit den Palästinensern zusammen und sind plötzlich dagegen, daß wir nach Israel auswandern. Sie wollen uns dabehalten, um uns für die Schuld am stalinistischen Übel den Prozeß zu machen. Sie bedrohen uns, schänden unsere Friedhöfe und verbreiten ihre Hetze in eigenen Zeitschriften.

Erwarten Sie, daß der jüdische Weltkongreß Maßnahmen gegen den Antisemitismus in der UdSSR beschließt?

Wir sind eigentlich nicht gekommen, um die Lage der sowjetischen Juden konkret zu verbessern. Wir sind hier, um an den Feierlichkeiten zum 45. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus teilzunehmen. Wir erwarten nur, daß der Weltkongreß uns dabei hilft, eine internationale Kampagne zu organisieren. Denn solange die Regierung in Moskau die antijüdischen Ressentiments duldet, kann die UdSSR nicht Mitglied von internationalen Menschenrechtsorganisationen sein.

Teilen Sie die Ansicht Edgar Bronfmans und Heinz Galinskis, daß die Überwindung der europäischen Spaltung ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen den Deutschen und dem jüdischen Volk aufschlägt?

Wir freuen uns aufrichtig für das deutsche Volk, auch wenn die Vergangenheit noch zwischen uns steht. Wir glauben, daß der Bankrott des stalinistischen Systems in Osteuropa eine Umbildung des politischen Weltsystems nach sich ziehen wird. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist ein Schlußstrich. Wir erwarten aber, daß dieser Prozeß nicht mit Chauvinismus und Rassenhaß verknüpft wird. Das ist die moralische Verpflichtung eines geeinten Deutschlands. Vom deutschen Volk darf nie wieder eine Bedrohung für das jüdische Volk und die Sowjetunion ausgehen.

Interview: Anita Kugler

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