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Gewerkschaftsdemokratie nur für die DDR

ÖTV-Hauptvorstand sträubt sich gegen Demokratisierung der eigenen Organisation / Gerichtsentscheidung soll umgangen werden: Vertrauensleute sollen weiter von Vorständen bestätigt werden / Zum Trost wird ein Beschwerderecht eingeräumt  ■  Von Martin Kempe

Wenn die Spitzenfunktionäre der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr heute und morgen in Stuttgart zur Hauptvorstandsitzung ihrer Organisation zusammenkommen, soll es unter anderem auch um den Aufbau einer Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes in der DDR gehen. Die ÖTV (West) gibt sich dabei - in Abgrenzung zu anderen Einzelgewerkschaften des DGB - besonders demokratiebeflissen: einen einfachen Zusammenschluß mit den eilig „gewendeten“ Gewerkschaftsorganisationen in der DDR soll es nicht geben. Die ÖTV-Spitze bevorzugt, wie die Vorsitzende Monika Wulf-Mathies wiederholt erklärte, einen Aufbau von „unten nach oben“.

Was die Vorsitzende für die neu zu schaffende DDR-ÖTV fordert, will die ÖTV-Führung für ihren eigene Organisation nicht zugestehen. Denn neben den gewerkschaftlichen deutsch -deutschen Problemen wird der Hauptvorstand auch über eine Vorlage zu beraten haben, in der es um das hauseigene Verständnis zur innerorganisatorischen Demokratie geht. In einer Vorlage für den Hauptvorstand vom 30. April 1990 wird empfohlen, die ÖTV-Leitsätze zur Vertrauensleutearbeit zu ändern. „Die Vertrauensleute bedürfen der Bestätigung durch den Kreisvorstand“, soll es wie bisher heißen und ergänzend hinzugefügt werden: „Im Falle der Nichtbestätigung bzw. des Widerrufs der Bestätigung hat das Mitglied ein Beschwerderecht an den Bezirksvorstand... Dieser entscheidet endgültig.“

Die ÖTV-Führung will mit dieser Beschlußvorlage zum Bestätigungsrecht der Kreisvorstände eine Regelung festklopfen, die im Dezember letzten Jahres vom Landgericht Stuttgart ausdrücklich für rechtsunwirksam befunden wurde. Sie verstößt, wie es in der Urteilsbegründung heißt, nicht nur gegen „zentrale Prinzipien der Willensbildung von unten nach oben und des demokratischen Wahlverfahrens, sondern auch gegen die demokratischen Grundsätze der Chancen- und Stimmengleichheit und des Minderheitenschutzes“.

Denn die Vertrauensleute sind ein tragendes Element der innergewerkschaftlichen Willensbildung. Sie werden von den Mitgliedern in den Betrieben und öffentlichen Einrichtungen gewählt, repräsentieren also unmittelbar die Meinung der Basis. Mit dem Bestätigungsrecht haben die Kreisvorstände die Möglichkeit, mißliebige Mitgliedermeinungen auszugrenzen.

Ausgelöst wurde der Rechtsstreit im letzten Jahr durch einen Konflikt im Hamburger Hafen, wo kritische Vertrauensleute auf Grund innerbetrieblicher Meinungsverschiedenheiten mit einer eigenen Liste zur Personalratswahl angetreten mit einigen Mandaten auch gewählt worden waren. Der ÖTV-Bezirksvorstand hat ihnen daraufhin die Bestätigung als Vertrauensleute entzogen, der organisationsinterne Beschwerdeweg blieb erfolglos. Erfolg hatten die Ausgegrenzten erst vor Gericht.

Während die ÖTV-Spitze einige Kleinigkeiten am Wahlverfahren korrigieren will, beharrt sie auf dem Bestätigungsrecht durch die Kreisvorstände. Es soll lediglich durch ein Beschwerderecht der betroffenen Mitglieder ergänzt werden. Die Hausjuristen der Stuttgarter ÖTV-Zentrale glauben, mit diesem geringfügigen Zugeständnis den per Gericht eingeforderten demokratischen Ansprüchen Genüge tun zu können. Andere Spitzenfunktionäre der Gewerkschaft, so zum Beispiel der hessische Bezirksvorsitzende Herbert Mai, fordert dagegen die ersatzlose Streichung der Bestätigungsregelung. Die ÖTV solle abweichende Meinungen nicht durch Entzug der Bestätigung ausgrenzen, sondern sich damit politisch auseinandersetzen.

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