Der Kreml sorgt für Streit in Bonn

■ Schewardnadse hat Streit in die Bonner Koalition gesät. Er möchte gerne einige Waggons vom rasenden deutschen Einheitszug abkoppeln und den Deutschen erst dann die volle Souveränität zurückgeben, wenn die Bündnisfrage geklärt ist.

Daß der Himmel über dem Kanzleramt der Stimmung im Koalitionslager entsprach, stritten die Beteiligten ab. Doch während FDP-Chef Lambsdorff nach drei Stunden seinem Büro mitteilte, das Koalitionsgespräch werde mindestens eine Stunde länger dauern, türmten sich über dem Kanzleramt schwarze Gewitterwolken, bevor Blitz, Donner und Regen auf die wartenden Journalisten niedergingen. Einzig Außenminister Genscher (FDP) verließ die Koalitonsrunde vorzeitig - sein verkniffenes Gesicht zu deuten, überließ er den Zaungästen.

Der Staatsvertrag mit der DDR über die Einführung der Wirtschafts- und Sozialunion stand im Mittelpunkt des über vierstündigen Gesprächs, doch in der Luft hing auch der Dissens im Regierungsbündnis über den sowjetischen Vorschlag des sowjetischen Außenministers Schewardnadse, den Prozeß der Vereinigung der beiden deutschen Staaten von der Bündnisfrage und der Klärung künftiger europäischer Sicherheitsstrukturen abzukoppeln.

Vor Beginn des Treffens der Partei- und Fraktionsspitzen hatte sich bereits der FDP-Vorsitzende Graf Lambsdorff bemüht, Dampf aus der Kontroverse zu nehmen. Zwar beharrte er darauf, die Bundesregierung dürfe den „Entkoppelungs-“ Vorschlag nicht in Bausch und Bogen verwerfen. In der jetzigen Form sei der sowjetische Vorschlag allerdings nicht akzeptabel und werde auch so von Außenminister Genscher nicht akzeptiert. Indirekt übte Lambsdorff jedoch Kritik an Bundeskanzler Kohl, der von einem Moskauer „Verhandlungspoker“ gesprochen hatte. Der FDP-Chef riet dazu, mit Augenmaß und sicherem Gespür für das Mögliche an die Sache heranzugehen und auf „starke Worte“ zu verzichten. Genscher selbst will erst heute im Bundestag seine Sicht zum Ergebnis des Bonner Vier-plus-zwei-Treffens am vergangenen Wochenende abgeben.

Am Dienstag nachmittag hatte Bundeskanzler Kohl vor der CDU/CSU-Fraktion seine Ablehnung gegenüber dem sowjetischen Vorschlag deutlich gemacht. Den Prozeß der deutschen Einheit von der Bündnisfrage und der Ablösung der alliierten Vorbehaltsrechte über Deutschland abzukoppeln, wäre eine „fatale Entwicklung“. Vielmehr müßten beide Ebenen parallel behandelt werden, sagte der Kanzler. Schewardnadse hatte von einer „Übergangszeit“ gesprochen, in denen die vier Mächte ihre Mitsprache über ganz Deutschland aufrechterhalten könnten. Nach Kohls Vorstellung sollen diese Fragen dagegen bei den Vier-plus-zwei-Gesprächen abschließend behandelt werden, noch bevor im November das KSZE-Treffen stattfindet. Die künftige Bündniszugehörigkeit müßte geklärt werden, bevor die staatliche Einheit vollendet werde. Auch eine Verzögerung bei der Erlangung der uneingeschränkten Souveränitätsrechte durch den Wegfall der alliierten Vorbehaltsrechte sei nicht hinnehmbar. In der CDU/CSU besteht die Sorge, hinter dem Vorschlag Schewardnadses stecke das Ziel, ein vereinigtes Deutschland zu neutralisieren. In der Fraktionssitzung erinnerte insbesondere der CSU-Landesgruppenchef Bötsch an das Stalin -Angebot von 1952 und die damals damit verbundene Neutralisierung mit den Worten: „Wiedervereinigt hätten wir schon 1952/53 sein können.“

Genscher sympathisiert offenbar mit der vorgeschlagenen Entkoppelung, um nicht den Prozeß der deutschen Einheit zu verzögern und zu erschweren. Auch in der Frage der fortdauernden Souveränitätseinschränkung des gesamtdeutschen Staats befürwortet Genscher eine pragmatische und abwartende Haltung. Selbst die in der CDU/CSU geäußerte Befürchtung, der sowjetische Vorschlag könnte die paradoxe Situation eines einigen Deutschlands mit doppelter Mitgliedschaft zu Nato und Warschauer Pakt hervorbringen, schreckt den Außenminister nicht. Genscher setzt auf Zeit. Gegenwärtig gehe es nur um den Verbleib der sowjetischen Truppen auf dem Gebiet der DDR. In dieser Frage kann sich auch Bundeskanzler Kohl für eine Übergangszeit die Stationierung der sowjetischen Truppen in der heutigen DDR vorstellen. Genscher erinnert an das Interesse der Sowjetunion, mit der Einheit Deutschlands auch bei der Abrüstung und Ablösung der Militärblöcke voranzukommen. Werde auf Schewardnadses Vorschlag eingegangen, gebe das der Sowjetunion einige Jahre Zeit, in denen die KSZE Umrisse neuer Sicherheitsstrukturen für Europa entwickeln könne und auch die Abrüstung bei den Wiener Verhandlungen zu Ergebnissen komme. Dann würden sich manche der heutigen Fragen von allein lösen.

In der FDP wird diese Position der Gelassenheit geteilt. Graf Lambsdorff jedenfalls vertritt, daß selbstverständlich das Ziel sei, möglichst bald die Frage der vollen Souveränität zu klären und die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Falls aber der Weg zur deutschen Einheit klar sei und „nur noch einige Restfragen der Souveränität“ offen seien, stehe man vor einer anderen Situation.

Gerd Nowakowsik