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Ein Biber in Paris

■ Tagebücher und Briefe von Simone de Beauvoir

Zu Sartres zehntem Todestag im Frühjahr 1990 heißt die literarische Aktualität in Paris...Simone de Beauvoir. Bei Gallimard erschienen drei Bände mit wichtigen biographischen Materialien, die dazu beitragen können, die nicht immer sehr gerecht behandelte Person der 1986 gestorbenen Autorin, in etwas deutlicherem Licht erscheinen zu lassen. Zum einen liegt eine zweibändige Ausgabe von Briefen der Beauvoir an Sartres und einige andere Personen zwischen 1930 und 1963 vor, zum anderen ihr Tagebuch aus den Jahren 1939 bis 1941, der ersten Phase des Zweiten Weltkriegs. Die meisten der abgedruckten Briefe stammen aus den Jahren zwischen 1938 und 1947.

Nach Sartres Tod erschien 1983 als erste seiner posthumen Schriften sein Tagebuch als Soldat in der ersten Phase des Krieges, die man in Frankreich auch Drole de guerre nennt, das sonderbare Abwarten von September 1939 bis zu Hitlers Blitzkrieg und Blitzsieg im Mai/Juni 1940. Dieses Tagebuch ist ein wichtiges Dokument zu Sartres menschlicher und philosphischer Wandlung unter dem Einfluß der Kriegsereignisse.

Nunmehr liegt das Gegenstück für Simone de Beauvoir vor: Ihre Aufzeichnungen vom September 1939 bis Anfang 1941, wobei für die Zeit nach Juni 1940 nur etwa 50 von insgesamt 350 Druckseiten abfallen. Der Titel Journal de Guerre (Kriegstagebuch) hört sich unangemessen kriegerisch an und ist nicht sehr glücklich gewählt. Der Text selbst bietet eine spannende und dichte Lektüre.

Für Simone de Beauvoir beginnt mit September 1939 ein neuer Lebensabschnitt, dessen Anfang und Auswirkungen sie bewußt miterleben will, jetzt beginnt eigentlich erst ihre Laufbahn als Autorin und Denkerin. Als Sartre an der Front ist, wird sie sich ihrer intellektuellen Eigenständigkeit bewußt, in diesen Monaten schreibt sie intensiv an ihrem dann 1943 erschienen Romanerstling L'Invitee. Hier zeigen sich auch Nuancen gegenüber Sartres Denken. Und oberdrein bekommen wir ein lebendiges Bild von ihrem hektischen Pariser Alltagsleben mit allerlei sentimentalen und intellektuellen Abenteuern.

Ihre schriftliche Selbstbeobachtung ist ihre Form der Teilnahme an den dramatischen Weltereignissen. Sie beschließt ganz bewußt, als der Krieg beginnt, ein Tagebuch zu führen, um ihre eigenen Reaktionen auf dieses ungeheure Ereignis zu untersuchen. Der erste Teil, nach der französischen Kriegserklärung im September 1939, ist denn auch der intensivste und am dichtesten geschriebene Teil der Hefte, wie sie selber bei einer späteren Wiederlektüre anmerkt.

Lektüren, Straßenerlebnisse, Spaziergänge, Cafehausgespräche, ihre Tätigkeit als Lehrerin, Liebesbeziehungen, Stimmungen, seltener: politische Meinungen, alles wird festgehalten und in Briefen und im Tagebuch aufgeschrieben. Dabei wird immer versucht, das unmittelbare Geschehen in eine philosophische Sprache zu übersetzen, denn das ist der Anspruch an das eigene Philosophieren: Es muß das Erlebte ausschließen, es ist ein Instrument bewußter Zeitgenossenschaft.

Zunächst einmal fällt Simone de Beauvoir in eine Art Hysterie: Sie hat eine panische Angst vor dem Krieg und besonders vor der Aussicht, lange Zeit von Sartre getrennt zu sein. Beteuerungen, wie viel ihr Sartre als Person und als Gesprächspartner bedeutet, sind der erste Akzent in diesen Notizen. Anfang November schlägt sie sich mit Hilfe gefälschter Papiere durch zu Sartre, der im Elsaß stationiert ist. Die Kriegswirklichkeit mit eigenen Augen anzusehen beruhigt sie, denn in der Zeit danach ist sie sehr mit sich selbst befaßt, es finden sich intensive Zeugnisse ihres Selbstbewußtseins. Allerdings wird es immer wieder Momente der Entmutigung und der Angst geben. Überhaupt erscheint sie hier gefühlsbetonter, spontaner, menschlicher als man sie gemeinhin gezeichnet hat.

Aber neben Sartre beschäftigt sie auch der „kleine Bost“, mit dem sie ein Liebesverhältnis seit 1937 hat und an den sie ganz heftig denkt, um den sie sich mehr Sorgen macht als um Sartre, den sie für unverletzlich und wundersam geschützt hält. Intime Beziehungen hat sie in dieser Zeit nur mit Frauen, darunter zu einer Frau, die auch Sartres Geliebte ist, sowie zu einer Schülerin. Die Beziehungsgeometrie im Sartre-Clan ist vielfältig und scheint keine moralischen oder psychologischen Probleme zu bereiten, höchstens eine Art des Taktierens und der dosierten Offenheit. Als eine der Frauen sie einmal fragt, ob sie nicht alle kriminell seien und das Gefängnis verdienten, notiert sie dies nur kommentarlos als Ausdruck momentaner Eifersucht. Es handelt bei dieser Lebensweise um Ausdrucksformen einer großen Vitalität, die in dieser Atmosphäre von Montparnasse stimuliert und zum Exzeß getrieben wird und die sich in einer gesteigerten Intellektualität ausdrückt, die ebenso leidenschaftlich ist wie das eigentliche Gefühls- und Liebesleben.

Die Tage der Beauvoir sind von hektischer Betriebsamkeit, ohne leere Momente. Schreibarbeiten, die grundsätzlich in Cafes stattfinden, Verabredungen, die kalkuliert werden müssen, chaotische und sprunghafte Lektüren, Kinobesuche, Schulunterricht, Privatunterricht, Arbeit am Roman, an der Korrespondenz, am Tagebuch. Und mitten in diesem Leben eben allerlei Formen von körperlicher Liebe und Zärtlichkeit. Und doch ist dieses vielfältige Leben wie aus einem Stück, es wird in einer einzigen Tonart erzählt und wirkt in sich geschlossen und völlig glaubwürdig und ist wohl nur in der speziellen Pariser Atmosphäre möglich.

Denn dieses Leben hat seine Schauplätze, seinen Ort: Paris. Immer wieder werden kleine poetische Passagen eingeschoben, die Beauvoir hat einen ausgeprägten Sinn für die Poesie von Paris, durch das sie ausgiebige Spaziergänge macht. Ein Standardbistro kann man für diese Zeit nicht angeben: Sie ist überall, in allen Bistros und Cafes sowohl am Boulevard du Montparnasse wie am Boulevard Saint-Germain und am Boulevard Saint-Michel, an manchen Tagen in fünf oder sechs verschiedenen Cafes an einem Tag. Ihr Hauptquartier ist ein Hotel in der Rue Vavin und Montparnasse ist ihr auch, neben dem Jardin du Luxembourg, der liebste Ort. Man versteht, wenn man diese Tage emsigen Umtuns nachvollzieht, daß sie den Spitznamen „Castor“, Biber, erhalten hat.

Der Besuch bei Sartre im Elsaß scheint ein deutlicher Einschnitt zu sein, danach denkt sie viel über sich selber nach und beschließt eine Analyse über ihre eigene Art zuschreiben, wie sie ihre „feminite“ lebt. Hier finden sich Passagen, die man als Keimzelle sowohl ihrer Erinnerungen an ihre Mädchenjahre wie zum Essay Das andere Geschlecht ansehen kann.

Einige Passagen aus diesem Tagebuch kennt man aus ihren Memoiren, aber den Roman der Tage für eine begrenzte Zeitspanne fortlaufend zu lesen gibt ein noch anschaulicheres Bild als die ja viel später geschriebenen glättenden und beschönigenden Erinnerungen.

Briefbände sind dagegen eine etwas schwierigere Lektüre, man kann immer nur kleine Häppchen davon genießen. Auch finden sich in ihren Briefen an Sartre viele Passagen aus dem Tagebuch wieder, nur ausführlicher in der Schilderung. Aber es ist schon bemerkenswert, wie sehr das Schreiben in ihren tagtäglichen Lebensrhythmus eingewoben ist: Sie schreibt beinahe täglich und äußerst ausführlich, die Verbindung mit Sartre darf nicht abreißen. Dabei erstaunt doch die sehr sentimentale und fast kitschige Form, die ihre Liebesbeteuerungen annehmen. Sie schreibt schnell und flüchtig, ihre Handschrift ist fast nicht leserlich, wie selbst Sartre einmal anmerkt. Und die Herausgeberin, die Adoptivtochter Sylvie Le Bon de Beauvoir, hat mit der Entzifferung der Briefe große Mühe gehabt, wie die zahlreichen Faksimiles in beiden Bänden veranschaulichen.

Immerhin ist es ein Glücksfall, daß die Briefe erhalten sind. Simone de Beauvoir, die noch selbst 1983 zwei Bände mit Sartres Briefen herausgegeben hat, hat ihre eigenen Briefen verloren geglaubt; ihre Adoptivtochter hat sie aber in einem Schrank gefunden und nun mit vielen Fußnoten versehen herausgegeben. Dabei werden in den Anmerkungen nicht nur alle Personen genau identifiziert, sondern es wird auch noch hinzugesetzt, welche Person als welche Gestalt in den Romanen und Memoiren der Beauvoir auftaucht, die sich immer bemüht hatte, ihre Gestalten, bei aller Transparenz, gerade zu verschlüsseln.

Als der Krieg auch Paris erreicht, gibt es zwei Dinge, die Simone de Beauvoir intensiv beschäftigen: Sie geht regelmäßig in die Nationalbibliothek, wo sie Hegels Phänomenologie des Geistes mühselig durchbuchstabiert. Und sie schafft sich ein Fahrrad an und lernt radfahren. Verstehen was geschieht und immer in Bewegung bleiben, auch wenn der Geschichte der Atem stockt, das ist und bleibt eine vorbildliche Haltung!

Manfred Flügge

Simone de Beauvoir, Journal de Guerre. Septembre 1939 -Janvier 1941, Paris (Gallimard) 1990.

Simone de Beauvoir, Lettres a Sartre, 1939-1963, 2 Bände, Paris (Gallimard) 1990.

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