Die DDR-Textilindustrie steht vor dem Kollaps

■ Die westliche Konkurrenz und eine absurde staatliche Preispolitik ruinieren gemeinsam den Bekleidungssektor / In Großhandelsbetrieben wie im Berliner SGB Textilwaren bleiben viele Klamotten liegen / „Abgemagerte Grundmaterialien und triste Farben“ schrecken die Kunden ab / Der Großhandel drängt auf radikale Preissenkung

Die Lage im DDR-Textilsektor ist dramatisch. Verschärft wird die tiefe Krise, in die die Textil- und Bekleidungsindustrie noch vor der Wirtschafts- und Währungsunion mit der BRD durch die Konkurrenz aus dem Westen geraten ist, ausgerechnet durch planwirtschaftliche Maßnahmen - durch eine geradezu absurde staatliche Preispolitik.

Die Verbindungen zwischen Produzenten, Groß- und Einzelhandel sind gerissen. Der Textileinzelhandel hat sämtliche Verträge mit dem Großhandel gekündigt. Letzterer bemüht sich, aus den Verträgen mit der Industrie herauszukommen. Die Lage im „Sozialistischen Großhandelsbetrieb Berlin Textilwaren“ (SGB Textilwaren) mag dafür beispielhaft stehen. In einem Protestschreiben an die Präsidentin der Volkskammer hat dessen 750köpfige Belegschaft gestern gegen die Preispolitik der Regierung protestiert, sich mit den Arbeitskampfmaßnahmen in der Textilindustrie solidarisiert und Gespräche über gemeinsame Kampfmaßnahmen angekündigt. Weil der Absatz dramatisch sank und sinkt, will das Unternehmen Lieferungen im Wert von 186 Millionen Mark stornieren lassen - mehr als dreiviertel der Summe der Lieferaufträge in Höhe von 230 Millionen Mark, die für das zweite Quartal 1990 bestellt worden waren. Der Absatz des Großhandelsbetrieb ist im März dieses Jahres auf 92 Prozent des Vorjahresmonats zurückgegangen, im April lag er bei 69 und im Mai bisher bei 45 Prozent. Die Lager aber sind voll. Allein bei SGB Textilwaren lagern Waren im Wert von 148 Millionen Mark.

Die Direktorin des Unternehmens, Regine Ermlich, macht einen ebenso kompetenten wie kämpferischen Eindruck. Sie glaubt, daß gut die Hälfte dieser Bestände bei Preissenkungen zwischen 70 und 90 Prozent noch absetzbar wäre. Der Rest sei unverkäufliches Zeug, „ungeheure Mengen an qualitativ minderwertiger Ware“. Doch Preissenkungen für den Groß- und Einzelhandel wurden durch das zuständige Ministerium für Handel und Tourismus bisher nur in Ausnahmefällen und dann in unzureichender Höhe genehmigt. Die Kreditbank AG der DDR ist da realistischer. Sie hat schon im Februar den Wert der Bestände nur noch mit 30 Prozent ihres nominellen Wertes veranschlagt.

Gefrustete Kunden

Die DDR-Kunden wollen keine Bekleidungsstücke aus dem eigenen Land mehr. Bei ihnen bestehe „ein Frust gegen alles, was von uns kommt“, sagt Frau Ermlich und hat dabei einen Tonfall des Verständnisses in der Stimme. Seitdem man die Kunden wegen der offenen Grenze nicht mehr zwingen könne, diese Produkte zu kaufen, weil es andere gar nicht oder nur zu unerschwinglichen Preisen gebe, blieben sie eben weg.

In der Tat wurde ihnen zuvor einiges zugemutet. Eine der führenden Modejournalistinnen der DDR, Lilo Mühling, hat das bisherige Angebot so beschrieben: „Vorwiegend schlechte und stark abgemagerte Grundmaterialien, triste Farben, keine saisontypischen Dessins, keine Modekonzeption... Mäßige Zutaten wie Knöpfe, Futter, Reißverschlüsse und oft schlechte Verarbeitung.“

Jetzt rächt sich die verfehlte Wirtschaftspolitik der letzten eineinhalb Jahrzehnte, die die Textilindustrie in Kombinaten konzentrierte und billige, standardisierte Massenproduktion bevorzugte. Dennoch wurde der Produktivitätsrückstand gegenüber der BRD kaum geringer. 1983, neuere Zahlen gibt es nicht, lag er im Textilgewerbe bei 56 und in der Bekleidungsindustrie bei 44 Prozent des BRD-Niveaus.

Der Marktsektor, auf den die Textilindustrie der DDR ausgerichtet wurde, ist inzwischen längst von den industriellen „Schwellenländern“ besetzt. Einer der führenden Verbandsfunktionäre der bundesdeutschen Textilindustrie, Peter Giernoth, hat kürzlich folgenden Vergleich angestellt: Eine Lohnminute kostet seiner Rechnung nach in der BRD 60 Pfennige, in der DDR 30 Pfennige, doch in Portugal liegen diese Kosten - inklusive Fracht - bei 20 Pfennigen.

Die bundesdeutsche Textil- und Bekleidungsindustrie hatte in den siebziger und achtziger Jahren unter dem Druck der Weltmarktkonkurrenz einen tiefgreifenden Strukturwandel durchgemacht: Sie baute über sechzig Prozent ihrer Beschäftigten ab und spezialisierte sich auf hochwertige Produkte, was Material und Design anbelangt. Zwischen der Konkurrenz dieses bundesdeutschen Industriesektors und der Konkurrenz der „Schwellenländer“ wird die Textilbranche der DDR momentan zerquetscht. Die gegenwärtige Preispolitik der DDR-Regierung verstärkt diesen Druck bis ins Unerträgliche.

Fatale Preispolitik

„Nicht der Westen macht uns kaputt“, erklärt Regine Ermlich, „obwohl die fliegenden Händler und alles, was hier so rumschwirrt, natürlich die Lage verschärfen, sondern unsere eigenen zentralen Entscheidungen machen jetzt noch schnell vor der Währungsunion die Industrie und den Handel kaputt.“

Die Einzelhandelspreise für neue Importware wurde Ende April drastisch gesenkt. Und am Montag dieser Woche wurden für die „Exquisit-Läden“ radikale Preissenkungen zwischen 50 und 85 Prozent verordnet - dort gibt es höherwertige, meist aus West-Materialien gefertigte Waren und inzwischen auch sehr viel direkten Westimport. Bei der DDR -Konfektionsindustrie kaufen die Kunden inzwischen in der Regel auch dann nicht mehr ein, wenn es sich um einen der wenigen kleineren Hersteller handelt, die hochwertige Produktion liefern.

Der Textilfachhandel aber muß die alten, staatlich festgelegten Preise verlangen. Das Ergebnis ist, daß die Preisrelationen vollkommen durcheinandergeraten sind. So kostet jetzt die billigste Damenhose als Neuimport 39 Mark, im „Exquisit“ 76 Mark, eine nach Material und Design sehr viel schlechtere Hose im Fachhandel mindestens 125 Mark und eine Kinderhose 120 Mark. Eine gemusterte Damenstrumpfhose gibt es bei „Exquisit“ für 2 Mark. Im Fachhandel kostet der gleiche Artikel in minderer Qualität 7,95 Mark. Die Beispiele ließen sich endlos fortsetzen.

Natürlich kauft unter diesen Bedingungen niemand mehr im normalen Textilfachhandel der DDR. Er wird jetzt samt Zulieferbetrieben genauso ruiniert wie die kleinen Privathändler, die dabei sind, eine neue Existenz aufzubauen, und die die gültigen Großhandelspreise zahlen müssen - soweit sie DDR-Ware beziehen.

Schon seit Monaten drängt der Textilgroßhandel auf eine radikale Preissenkung, berichtet Frau Ermlich. Von seiten der Regierung und des Zentralen Warenkontors gab es darauf bisher keine Reaktion. Statt dessen erfolgte sogar noch die absurde Preissteigerung für Kinderbekleidung. Für die Direktorin des SGB Textilwaren ist das Maß jetzt voll: „Ich sage Ihnen ganz ehrlich, wenn jetzt nicht hier in den nächsten Stunden was passiert, besetzt unsere Belegschaft das Ministerium, bis eine Entscheidung kommt.“

Walter Süß