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Bahnhof Friedrichstraße

„Die formlose Masse, schwarz vor weißen Kacheln, schweigt.“ Erinnerungen an den Berliner Tränentempel. Aus einer Erzählung.  ■  Martin Kurbjuhn

Es könnte ein Duschraum sein. Blut, Hirnmase könnten sofort abgewaschen werden. Die Fliesen sind gesprenkelt, klebrig. Bewegungen werden dauernd gebremst. Über ihm hängen Kameras wie Hummeln. Die formlose Masse, schwarz vor weißen Kacheln, schweigt. Die Kacheln, etwas bauchig, haben taube Flecken. Die Spiegelung verändert die Proportionen des einrichtungslosen Raums. Die pralle Aktentasche ist an das Handgelenk des vorbeigehenden Polizisten gekettet. Es könnte auch geschrien werden. Maaßen fühlt sich gegen seinen Willen richtig eingeschätzt, wehrlos, verlumpt. Unaufhörlich siegt hier das Tote über die Lebenden. Dunkel stehen die Menschen hintereinander vor den Türen der Kontrollboxen des Grenzübergangs. Maaßen hört einen fernen, metallischen Klang. Er hat Funken vor den Augen, gleißende Wirbel, die ihn etwas beleben. Die alte Frau schiebt ihre Tasche auf Rädern in seine Kniekehlen. Die Räder quietschen. Sein abulischer Zustand erlaubt ihm Momente vollkommener Gedächtnisleere. Er hat sich immer leicht verblüffen lassen. Er ist schwer, ein schwerer Körper, gleichzeitig fadenscheinig, eine Imitation. Im Neonlicht könnte der Kopfdruck schlimmer sein. Er beobachtet die junge Frau von hinten, ohne weiterführende Reaktion. Sie trägt einen schmalen gläsernen Reifen am Ohr. Sie dreht sich um. Die kleine, depressiv abgemilderte Härte in ihren Mundwinkeln gefällt Maaßen. Die furnierten Holzplatten, von braungestrichenen Metallleisten eingefaßt, lassen ihn an Toiletten denken. Er wartet ohne Groll vor einer geöffneten Toilettentür auf seine Abfertigung. Der Boden zittert bei der Einfahrt eines Zuges der Nord-Süd-Bahn im Tunnel umter ihm. Vielleicht sind die Kameras nicht eingeschaltet. Lauter gesprochene Worte wirken unangemessen, die Gebärden einheitlich. Den gehelfsmäßigen Personalausweis, den Mehrfachberechtigungsschein, die Einreisekarte, die Zollerklärung hat Maaßen schon in der Hand. Die Luft umgibt ihn brackig. Er blickt hinein in den kaum menschenkörperbreiten, beißend hell erleuchteten, kurzen Kontrollschlauch. Die Profile der Menschen vor ihm haben konturierte Nasen. Die Haut ist teigig, grobporig. Er denkt an seine frischen Unterhosen. Er nimmt teil an einem Prozeß, in den er hineingerissen wird wie in einen Tiefschlaf. Im Schlaf wartet er auf die wenigen lichten Momente seines Lebens. Er registriert die Einzelheiten der Entwürdigung, als wäre er nicht daran beteiligt. Alles deutet hier zurück auf sich selbst. Allein zu sein bedeutet gar nichts. Nur das Summen, knacken, Einrasten der Ausgangs- oder Eingangstüren hinter den Boxen, das Scharren des von den Füßen im Nachrücken vorwärtsgeschobenen Gepäcks sind zu hören. Die demütige Haltung der alten Frau hinter ihm wirkt gewollt. Sie scheint ihr Alter noch zu betonen. Langsam rückt Maaßen vor. Er steht unter der schrägen Spiegelfläche im Schlauch. Im Hochblicken erkennt er sein Gesicht, das ihm fremd ist, krank, gehetzt, schuldbewußt. Er hat oft auf einen Stoß gewartet, um loszulaufen, in den Augen das Zittern der Hoffnung. Er hält der Intensität des sekundenlangen Blicks des Beamten stand. Die Intimität dieses Moments hat ihn entleert. Er ist ausgesogen worden. Sein Körper erschlafft, als die Augen des Beamten von ihm abfallen. Sein Gesicht in der Scheibe des Schalters ist verschoben, schief zusammengesetzt, kubisch. Es ist ihm unangenehm, so entblößt gesehen zu werden. Den altmodischen Klang beim Stempeln des Visums unter der vorgezogenen Holzplatte ergänzt er durch seine Unterwürfigkeit. Der graue Blouson des Beamten ist steif, die geflochtenen Schulterklappen haben etwas Feistes. Alle Verachtung ist einen Moment auf Maaßen konzentriert. Die Wiederholungen nehmen den Ereignissen nichts von ihrer Einmaligkeit. Die Verachtung isoliert ihn von der Umgebung. Er wird besichtigt. Er steht frei im Raum. Das Licht im Kontrollschlauch ist selbst sein Schatten. Neben dem Kopf des Beamten hängt ein Telefon ohne Wählscheibe an der Wand. Das blasse, von einer unsichtbaren, tieferliegenden Lichtquelle angestrahlte Gesicht registriert Maaßen mit schadenfrohem Mitleid. Die Erstarrung breitet sich kalt in seinem Körper aus. Er ist technisch am Leben, mehr wird nicht verlangt. Alles um ihn herum weicht zurück. In dieser Schleuse ist er vollkommen abgeschieden. Das gehäutete Gesicht des Beamten ist sehr nahe, greisenhaft in seiner frühen Verwüstung, als er die Papiere und das Visum über die Platte schiebt. Maaßen wird gesehen, ohne angesehen zu werden. Wo er noch steht, ist schon eine leere Stelle. Das Zucken der Hand des Beamten zur Ausgangs- oder Eingangstür hin verwandelt ihn in ein Gespenst. Er muß verschwinden. Im Inneren des Türschlosses summt es. Maaßen drückt mit der Schulter die furnierte Tür auf. Er ist draußen oder drinnen, aber nicht erleichtert, eingeschlossen oder ausgeschlossen. Seine Anwesenheit ist abstrakt, er ist noch nicht dabei, gedämpft, der Körper müde, staubig. Links, rechts summen, knacken Türschlösser anderer Boxen. Es wird nicht gesprochen. In der Höhe ist ein Rauschen, Echos unerkannter Geräusche. Maaßen findet in seiner Erinnerung nur ausufernde Flecke, in der Gegenwart, die vergangen ist, eine schemenhafte, zu ihm passende Figur, und die Erwartung richtet sich nicht weiter als bis zur nächsten Sperre, Behinderung. Die Menschen tappen aus den Boxen in den kahlen, halbdunklen Gang vor den Holzwürfeln für den verordneten Geldumtausch, in denen uniformierte Frauen sitzen. Die Menschen blicken suchend herum, als hätten sie eine Wahl, in den Händen Koffer, Taschen, Plastiktüten, Blumensträuße, hinter ihnen unaufhörlich, in immer neuem Rhythmus, immer neuen Tonfolgen, das Summen, Knacken aufgedrückter, automatisch einrastender Türen. Die Augen des Beamten müssen sehr hell, ausgebleicht gewesen sein. Maaßen erinnert sich nicht an ihre Farbe. Sie haben ihn zu einer banalen, undurchbluteten Figur gemacht, aber es kümmert ihn nicht. Es ist ein Riß im Empfinden der Zeit. Sie beginnt ruckartig, von vorn. Es gibt hier keine Fragen, die nicht längst beantwortet wären. Die Luft ist unbeweglich. Er muß gegen sie anatmen. Er sieht den Japaner, die kantige Haube der Nonne. Die Einzelheiten ergeben keinen Zusammenhang. Halblaute Worte verstärken den Eindruck, in einem Keller zu sein. Die Augen des Beamten sind trocken gewesen. Sie haben Maaßens Blick abgestoßen. Der eigene Blick hat ihn geschmerzt. Die Geldscheine sind neu, knapp beschnitten. Die steife Frisur der uniformierten Frau paßt zu ihrer Tätigkeit. Die Uniform könnte knarren. Die Scheine sind glatt, hart. Das System der Überwachung ist melancholisch, aufbrausend, von tiefer Resignation durchdrungen. Die Einrichtung in der Halle der Zollabfertigung erinnert an ein Lager für Sperrmüll. Die Gänge zwischen den furnierten Holztheken, leeren Tischplatten, von Ketten verhängten Nischen, verschlossenen Türen der Durchsuchungszimmer, blauen Kästen mit roten Radioaktivitätszeichen sind schmal, so daß die Einzelheiten jedes Gesichts, die verzogenen Schultern beim Tragen, die schräg gestellten Koffer, Taschen, Pakete, Tüten leicht zu beobachten sind. Alle werden in ihrer Eile gebremst, erstarren mitten im Lauf, ehe sie in einen gemeinsamen Trott verfallen, häßlich in ihrer Erschlaffung. Maaßen nimmt teil an einem Vorgang extremer Verlangsamung. Die Geheimnislosigkeit ermüdet ihn. Das Zischen über ihm versucht er aus dem Ohr zu schütteln, in einer Bewegung ihm selbst nicht bewußter, heftiger Verneinung. In der künstlichen Stille riecht er das Parfüm der Frau, die nahe aufgerückt ist. Weißen Batterien fallen aus dem schwarzen Kassettenrecorder auf die braune Theke neben die taube Hand des Zöllners, der über die Menschen hinweg ins Leere blickt. Das Licht hat etwas Körniges, Graues angenommen. Das große, wie von Kindern gemalte, rote Radioaktivitätszeichen sieht Maaßen sehr deutlich, herauspräpariert. Er kennt diese Konzentration aufs Nebensächliche im Moment der Isolation. Er ist in einem Traum, den andere für ihn träumen. Er ist in einer Wirklichkeit, die er nicht berühren, zu der er keine Verbindung herstellen kann. Später wird er sich an Einzelheiten erinnern, die er jetz nicht bemerkt. Er wird eine Atmosphäre erlebt haben, die ihn hätte bedrücken müssen, aber jetzt nicht bedrückt. Er spürt das Gewicht der von der hellen Zone getrennten, dunklen Zone im Kopf. Der Zustand gelähmter Unruhe ist ihm vertraut. Er hat nichts ausreifen lassen. Eine Jugend hat es nie gegeben. Um ihn herum versinken die Erscheinungen. Es gibt nichts Verborgenes im Sichtbaren. Unter den Blicken des Zöllners altern die Dinge, offenbaren ihre grundsätzliche Unzulänglichkeit. In der geöffneten Kunstledertasche des alten Mannes liegen zwischen Zeitungspapier Kristallgläser, Kristallschalen, Bonbontüten, eine Holzlokomotive, ein Netz mit Zitronen. Der alte Mann bückt sich, um eine heruntergefallene Batterie aufzuheben. Die quer über die wunde Schädeldecke gezogenen Haaarsträhnen, das Stöhnen, das Rascheln der verbrauchten Kleidung ekeln Maaßen. Der alte Körper hockt zu seinen Füßen. Er riecht modrig. Die Finger berühren die Schuhspitze. Maaßen zieht den Fuß zurück. Die Hände des Zöllners halten den sehr leichten Kassettenrecorder. Sie wirken stummelartig, hineingetrieben in die Arme. Die Finger des alten Mannes sind weiß, mehlig. Sein Eifer, seine Erniedrigung stellen Maaßen bloß, entwerten ihn. In den Körper des Zöllners ist der Beruf tief eingedrungen. Er ist indigniert von dieser Unterbrechung, die er nicht selbst angeordnet hat. Die glasige Haut spannt unter seinen Augen. In der Nacktheit des Gesichts liegt das Geheimnis. Die Augen sind braun, ohne Tiefe, die Lider stark gerötet. Maaßen spürt das Buch über die Nationale Volksarmee dick in der Innentasche der zu hellen Jacke. Die Momente folgen einander, unverbunden. Der Kopf des alten Mannes, die weiße Batterie erscheinen. Maaßen weicht zurück. Er findet das eigene Verhalten auffällig. Er muß blaß sein, faltenreich. Alle übersehen sich. Es gibt keine Versäumnisse. Nichts entgeht den Wartenden. Es ist eine mediale Art gegenseitiger Beobachtung. Der Zöllner dreht wortlos den Zeigefinger im leeren Batteriefach. Sein Gesicht ist nicht einfach nur blaß, verhangen. Es ist blaß vor Wut. Im nun unerträglich grellen Licht zittern die Hände des alten Mannes so stark, daß die Batterien beim Versuch, sie ins Batteriefach einzusetzen, immer wieder herausfallen. Maaßen tarnt das Gähnen als Ungeduld über die Verzögerung. Der Zöllner blickt ihn ungefähr an. Er scheint zu lächeln, wenn man den höher statt breiter werdenden Mund mit einem Lächeln in Verbindung bringen will. Seine babyhafte Hand zuckt. Sie verlangt die Entfernung der Zeitungsfetzen aus der Kunstledertasche. Es handelt sich um verbotene Druckerzeugnisse. Maaßen verfehlt die Augen des Zöllners, der gedöst zu haben scheint, umgeben von einer Atmosphäre stiller Gewalt. Maaßen ist plötzlich so gerührt vom Eifer des alten Mannes, als hätte er etwas Neues bei sich selbst entdeckt. Der Rücken verschwindet hinter der Ecke der Holzwand. Maaßen hört das Klirren des Glases in der geschlossenen Kunstledertasche. Seine Papiere gleiten in die herabhängende Hand des Zöllners, dessen einsame Brust eine versteckte Wildheit ausstrahlt. Er scheint zu lauschen. Unbeteiligt registriert Maaßen die eigene Ohnmacht, die Scham, die kleine wütende Flamme. Er denkt an die Dummheit des Nachträglichen. Der letzte Blick des alten Mannes hat ihm gegolten. Er ist begrüßt worden, in seiner persönlichen Zukunft. Nichts kommt hier zu einem Ende. Der Moment ist sehr dauerhaft. Er muß Erwartungen gehabt haben. Er kann es kaum glauben. Seine Haut ist verkrustet, ein bloßer Fetzen. Er könnte sie zwischen Daumen und Zeigefinger zerreiben. Die Regung des Stolzes überrascht ihn. Er sieht den Zöllner länger an in diesen Sekunden der Isolation. Der Zöllner muß die zitternden Hände sehen. Die Hände sind fremd, unentwickelt. Sie zittern nicht vor Angst. Es ist die Nervosität, die einer entscheidenden Tat vorausgeht. Die stark parfümierte Frau atmet absichtlich lauter. Der Zöllner hat ein altes Gesicht im jungen. Erst nach mehreren Versuchen gelingt es Maaßen, den weißen Kunststoffdeckel zu entfernen, um die Fotografie der zerstörten Elbbrücke im Schnee aus der Papprolle zu ziehen. Die stark parfümierte Frau wird unkontrolliert durchgewunken. Maaßen blickt in den gelb erleuchteten Gang zu den Druchsuchungsräumen. Vielleicht beult das Buch über die Nationale Volksarmee die Innentasche doch zu stark aus. Der Zöllner entläßt ihn mit einer lustlosen Geste. Er will die Fotografie nicht sehen. Seine ganze Haltung hebt die Überflüssigkeit von Maaßen an diesem Ort hervor. Maaßen nimmt die eigenen Papiere wie fremde entgegen. Langsam nähert er sich der Wirklichkeit. Es gibt keine Widerstände. Er ist etwas beschämt. Er kann es nicht leugnen. Im Gehen, von einem leichten Schwindel erfaßt, dreht er die Fotografie in die Papprolle hinein. Im Halbdunkel hinter der Holzwand, in einem offenen Kasten, zwischen den Beinen die Maschinenpistole, sitzt ein Soldat neben der letzten, alumininiumverkleideten Tür zum Ostteil des Bahnhofs. Die Zugvorrichtung ist so straff eingestellt, daß immer nur eine Person, noch vorgebeugt von der Anstrengung, die nötig ist, um sich gegen die Tür zu stemmen, ohne von der sich schließenden Tür sofort wieder in den eigentlichen Grenzbereich zurückgedrängt zu werden, in die künstliche Dämmerung der gelbgekachelten Halle, in der in einem fast lautlosen Wirbel die Menschen kreisen, eintauchen kann, verwirrt vom Starren aus den zuerst nur schemenhaft erkennbaren Gesichtern hinter dem Geländer vor der zwischen den gelben Kacheln blitzenden Tür, deren Weitwinkelspion alle Blicke auf sich zieht.

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