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Ausgezogen, das Fürchten zu lehren

DDR: Versuch der Pauker, auf der Streikwelle in den Beamtenstatus zu surfen  ■ K O M M E N T A R

Als am Donnerstag die Lehrer der Hauptstadt vor den Palast der Republik zogen, trieb sie nicht wie noch im August '89 der Ruf ihrer Landesmutter und Ministerin zusammen. Kein Volksbildungskongreß lockte diesmal die Pädagogen zum Glasbau, und nicht um mit Ovationen der Generalsekretärsgattin kommunistische Erziehungsrezepte aus dem Mund zu ziehen waren sie erschienen. Der neue Minister heißt Prof. Meyer und nicht Genn. Honecker.

Nun haben die Lehrer endlich den Mut gefunden, für ihre Interessen zu kämpfen. Trieb in vierzig Jahren Staatsbürgerkundeunterricht, Gesinnungsschnüffelei und schließlich die Einführung der Wehrkunde keinen Lehrer vom Katheder auf die Straße, vermochte es das Gespenst der ins Haus stehenden Vereinigung. Während am gleichen Tag die Beschäftigten der Leder-, Textil- und Bekleidungsindustrie gegen die unkontrolliert über den Markt rollende Konkurrenz aus dem Westen streikten, fürchtet die einst so linientreue Pädagogenzunft, im Wirrwarr des Zusammenwachsens gesicherte Positionen zu verlieren. Zu gern würden sie sich an westdeutschen Beschäftigungsmodellen orientieren und mit dem Beamtenstatus abgefedert in das neue Deutschland gleiten.

Müssen die Beschäftigten in den unrentablen Bereichen der DDR-Volkswirtschaft um die nackte Existenz als Arbeitende streiken, versuchen die Pauker des Landes in einem Abwasch, Lohnerhöhungen, Studienanerkennung und Unkündbarkeit zu erschwänzen. Die protestierenden Schulmeister bewiesen mit ihrem Forderungskatalog ebensoviel Realitätssinn wie ihr parteiloser Minister mit seinem Hinweis, daß vor allen Widrigkeiten im deutsch-deutschen Crash das gute Arbeitsgesetzbuch der DDR zu schützen vermag. Die Serie der Warnstreiks und Protestaktionen, die jetzt die DDR durchziehen, sind bislang nur Ausdruck der Partikularinteressen von Risikogruppen. Sie können aber als ein Vorgeschmack dessen gelten, was der Nation nach dem Einzug der D-Mark droht.

Andre Meier

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